Sita Vajramati

Negativität

Negativität
Was wir aus Missbrauch lernen können
von Sita Vajramati
Wer sich mit der eigenen Negativität auseinandersetzen will, braucht Mut. Denn eigentlich darf man das als spirituell Praktizierende nicht haben. Wenn doch, so hat man nicht erfolgreich oder nicht genug praktiziert und muss sich mehr anstrengen. Sicher wird man das aus Angst vor einer moralischen Verurteilung nicht veröffentlichen.

Ich selbst praktiziere seit über dreissig Jahren Meditation. Nach ungefähr der Hälfte der Zeit stiess ich in einem Handbuch für die Praxis der Mahamudra auf einen Satz, der mich wie ein Blitz traf. Da war zu lesen: bei der in der Meditation angestrebten Gedankenfreiheit handelt es sich zumeist um gedankenfreie Nichterkenntnis, hinter der sich Negativität verbirgt, ohne jeglichen spirituellen Wert.

Mit anderen Worten: Die Gedankenfreiheit in der Meditation kommt dadurch zustande, dass ich meine Wahrnehmung blockiere und infolgedessen nichts erkenne – eben auch nicht das Negative – was zu einer freudlosen, unlebendigen Leerheitserfahrung führt, die Viele für das Ziel der Meditation halten: eben jene gedankenfreie Nichterkenntnis ohne jeglichen spirituellen Wert.

Zwei Fragen ergeben sich daraus: warum haben wir das nötig? Und: Hat der Buddha das so gelehrt? Die erste Frage lässt sich einfach und klar beantworten: Wir haben es nötig, weil wir uns vor dem Negativen in uns und um uns herum schützen wollen. Wir haben Angst, es würde uns überwältigen, überfordern und hilflos machen. Es gibt einfach zuviel davon. In der Meditation suchen wir eine Insel der Ruhe, um uns von unserem Getriebensein zu erholen. Das gilt es festzustellen ohne jede Beurteilung.

Wenn in unserer Geistesruhe dann doch etwas Negatives auftaucht, was sich nicht unterdrücken lässt, zweifeln wir an uns: Jetzt praktiziere ich schon solange und immer noch...ich bin unfähig, ...ich mache es nicht richtig... ich brauche eine andere Methode, eine andere Schule, einen anderen Lehrer, eine andere Lehrerin. Wir verlieren die Freude am Weg und die Freude an uns selbst. Wir fühlen uns ständig bedroht. Wir suchen auf altbekannten Wegen nach Erleichterung, was die Selbstzweifel verstärkt.

Leiden durch die Identifikation mit dem Ideal

Dieses Leiden ist dadurch bedingt, dass wir uns mit dem Positiven identifiziert haben, um uns vor dem Negativen zu schützen. Wenn das nicht funktioniert, erleben wir eine Krise. Es ist sehr wichtig zu verstehen, wie unausweichlich die Dynamik ist: Wenn es mich vor meinem eigenen moralischen Urteil nur als positives Wesen geben darf, darf es mich als negatives Wesen nicht geben. Deshalb muss ich alles was mich daran erinnern könnte aus meinem Bewusstsein ausschliessen. Die Möglichkeit der Selbstidealisierung beruht auf Abspaltung und Verdrängung. Das eine ist nicht ohne das andere zu haben. Es ist als würde jemand einen Teil von sich amputieren, nur damit der andere makellos bleibt.

Die buddhistische Welt wird zur Zeit von zwei Missbrauchsfällen erschüttert. Hochgeehrte Persönlichkeiten, wie der Zen-Priester Genpo Döring und der buddhistische Meister Sogyal Rinpoche haben sich unethisch und verletzend verhalten. Ihnen wird Gewalt, Vorteilsnahme und sexueller Missbrauch nachgewiesen.

Wie ist das möglich? Ist doch das oberste buddhistische Gebot Leben nicht zu verletzen? Haben sie nicht richtig oder nicht genug praktiziert? Das darf doch einfach nicht wahr sein! Doch es ist wahr und es ist das Ergebnis eines Praktizierens, das sich selbst idealisiert und sich in Bezug auf das eigene Negative unbewusst macht. Dementsprechend sind die Beschuldigten völlig unfähig, sich mit dem Schaden den sie angerichtet haben, auseinanderzusetzen und die Verantwortung dafür zu übernehmen. Das erfährt man aus ihren Reaktionen. Die Ich-Identifikation mit dem spirituellen Ideal macht blind, taub und dumm. Buddha nannte das Verblendung.

Welche Konsequenzen ziehen wir daraus für uns? Können wir die Erschütterung nutzen, um unser eigenes Praktizieren zu überprüfen und was können wir daraus lernen?
Wenn klar ist, dass die Ich-Identifikation mit dem Idealen ins Leiden führt, weil wir mit dem Unidealen nicht umgehen können, müssen wir doch genau das lernen.

Der Buddha hat dazu klare Anweisungen gegeben, die auf einer vollständigen Durchdringung der Wurzelursachen des sogenannten „Negativen“ beruhen.
Jede Art von Ich-Konstruktion und Ich-Identifikation auch die mit dem „Guten“ – dem spirituellen Ideal - hat Negativität zur Grundlage: Sie macht sich das Gute zu eigen. Sie schliesst das Gegenteil aus, und macht sich unbewusst in Bezug auf die ganze Wahrheit. Diese drei Geistesgifte, Gier, Hass und Verblendung, hat der Buddha als die Wurzeln des Leidens beschrieben; in unserer Terminologie: Haben-wollen, nicht–haben-wollen und nicht-wissen-wollen. Die Ich-Behauptung auf der Basis eines jeglichen Konstrukts: nur das bin ich, und das bin ich nicht, beruht auf einem Akt der Aversion. Diese aversive Aktivität findet nicht nur einmal statt, sondern fortlaufend, solange wir den Glauben an unsere separate Ichheit, ob positiv oder negativ definiert, aufrechterhalten müssen.

Was ist Aversion – wie üben wir mit Aversion?

Aversion ist kein Gefühl sondern eine negative geistige Haltung. Sie schränkt unsere Bewusstseinfähigkeit ein und vergiftet unser Denken und Fühlen. Aversion ist mentaler Hass, er motiviert Aktivitäten des Abweisens, Ablehnens und Verfolgens. Mentaler Hass ist in der Regel unbewusst. Wir können ihn aber körperlich an Kopfschmerzen, Muskelverspannungen, Kälte, hohem Blutdruck und flacher Atmung spüren. Emotional fühlen wir uns genervt, ungeduldig und freudlos. Im Schweizerdeutsch gibt es den treffenden Ausdruck: hässig. Fühlen und Wahrnehmen sind eingeschränkt. Wir bewegen uns hektisch, sind vergesslich und unfallgefährdet. Wir sind in Gefahr uns selbst und andere zu verletzen. Unbewusst leiden wir. Wenn wir das bemerken, werden wir in der Regel ärgerlich. Wir suchen nach Erklärungen und nach Schuldigen. Der Ärger kann sich gegen uns selbst und gegen andere richten. Sein Ziel ist immer Beseitigung. Entweder das Problem, den anderen oder notfalls uns selbst. Unbewusst reagieren wir auf Aversion mit Aversion. Das kann sich bis zum Suizid steigern.
Um dieses Leiden zu beenden, braucht es die Entschlossenheit, sich aus dem Gefängnis seiner Ich-Anhaftung zu befreien. Der erste Schritt dazu ist, bereit zu sein, die Symptome überhaupt wahrzunehmen. Anders kann eine Übungspraxis nicht beginnen. Im Satipatthana Sutra lehrt der Buddha das Gewahrsein der Geistesgifte.

Nachdem wir die Symptome bemerkt haben hören wir auf, rationale Erklärungen dafür zu suchen. Stattdessen richten wir das Gewahrsein auf unseren energetischen Zustand. Wir erleben unsere Verkrampfung direkt ohne sie zu beurteilen und ohne nach ihrer Berechtigung zu fragen. Wir spüren hinein, wir durchdringen den aversiven Zustand mit Wahrnehmung. Wir schauen nicht von aussen, sondern wir begeben uns mitten in diese negative Empfindung hinein. Wir fragen uns, ob das liebevoll akzeptierend geschehen kann und versuchen es. Wir nehmen den Atem zu Hilfe, um die Empfindung zu energetisieren und beim Ausatmen zu entspannen. Dadurch kann die Lebensenergie wieder ins Fliessen kommen. Die Verkrampfung wird sich lösen. Die Weisheit des Herzens erhält eine Chance, zu uns zu sprechen.

Angst vor Gefühlen

Da Aversion ein Schutz ist, der uns vor vermeintlich Unerträglichem bewahren soll, haben wir vor seiner Auflösung Angst. Das gilt es nicht zu beurteilen, sondern ist ein Überlebensreflex, den wir ernst nehmen müssen. In der Tat fluten ohne die Barriere unserer Ich-Abtrennung alle Wahrnehmungen in unser Bewusstsein sowohl von Innen als auch von Aussen. Um das zulassen zu können müssen wir vorher wissen, wie wir damit umgehen können. Auch hier gibt das Satipatthana Sutra konkrete Anweisungen und Hilfen. Der Buddha lehrt uns Gefühlsgewahrsein.

Wenn wir das ernsthaft praktizieren wollen, wird sich sehr wahrscheinlich ein Widerstand einstellen. Wir alle haben bereits eine Geschichte mit Gefühlen. Sie ist davon geprägt, was wir in der Kindheit erlebt haben und wie unsere Eltern mit unseren Gefühlsäusserungen umgegangen sind. Wenn wir gelernt hätten alle Gefühle zu fühlen, könnten wir auf die Aversion verzichten. So ist es nicht. Abwehren müssen wir, weil wir uns bedroht fühlen, zum Beispiel von Angst, Wut, Ohnmacht oder Schmerz. Für manche Menschen ist aber auch Glück und Freude schwierig, wenn sie nicht ins Ich-Konstrukt passen.

Der Widerstand gegen das Gewahrwerden der Gefühle könnte sich etwa in folgenden Gedanken äussern. Wozu soll es gut sein, sich auf Gefühle einzulassen? Dadurch wird es nur schwieriger; Hilfe und Verständnis gibt es sowieso nicht. Ich werde sicher abgelehnt.
Damit kann man mich ja nicht gern haben. Und zum Schluss muss ich mich sowieso anpassen.

Die Abwehr überwinden

Wie können wir diese Abwehr überwinden? Wir müssen vom Sinn des Fühlens überzeugt sein. Wir brauchen liebevolle Wahrnehmung statt Ablehnung. Wir brauchen konkrete Unterstützung.

Was ist der Sinn des Fühlens? Gefühle sind Weisheitsenergie, sie sind unsere spontane emotionale Antwort auf das Leben. Die Möglichkeit zu fühlen ist angeboren und gehört zur menschlichen Grundausstattung. Gefühle orientieren uns im Dienst des Überlebens.
Freude, Angst, Trauer, Wut, Ekel und Scham sind Affekte, die schon in frühester Kindheit spontan auftreten. Sie wirklich als Gefühl zu fühlen und ins Bewusstsein zu nehmen muss allerdings erlernt werden. Dafür braucht der werdende Mensch die Unterstützung eines erwachsenen mitfühlenden Wesens, das die emotionale Energie aufnimmt, mit Sprache versieht und zurück spiegelt. Nur auf diese Weise verlieren die spontanen emotionalen Affekt für das Kind ihre Bedrohlichkeit und werden handhabbar.

Auch im erwachsenen Alter können die Affekte in besonders kritischen Situationen spontan ausgelöst werden. Sie behalten zeitlebens ihren archaischen Charakter. Im Alltagsleben bleiben sie normalerweise unterschwellig. Aber sie bewirken emotionale Wellen an der Oberfläche unseres Bewusstseins, die wir als angenehm oder unangenehm erfahren. Wir müssen also zwei Ebenen unterscheiden: Die Ebene der primären affektiven Reaktionen auf Ereignisse und die Ebene der sekundären emotionalen Bewertung unseres Erlebens. Eine Erfahrung kann sich für uns entweder angenehm oder unangenehm anfühlen. Die emotionale Bewertung ist noch nicht das Gefühl, sie ist ein Entscheidungskriterium dafür, ob wir es zulassen wollen oder nicht. Und das geschieht in der Regel unbewusst. Auf diese Art sortieren wir Gedanken, Wahrnehmungen und eben auch die primären Gefühle. Wir müssen uns also bewusst entscheiden die Filteraktivität unseres mentalen und emotionalen Bewusstseins zu lockern, wenn wir an die primären Gefühle herankommen wollen. Wie kann das gehen?

Anleitung zu Gefühlsgewahrsein

Im ersten Schritt müssen wir die Aversion wahrnehmen und entspannen, dann hilft die Frage weiter: Wie fühle ich mich mit mir selbst: angenehm oder unangenehm? Die Antwort muss erfahren und nicht erdacht werden. Auf diese Weise vermeiden wir die Rationalisierung. Dann werden tiefere Dimensionen des Fühlens zugänglich. Die primären Emotionen können erlebt und in ihrer Bedingtheit verstanden werden. Dabei geht es nicht um berechtigte oder unberechtigte Gründe sondern um das lebendige Erleben unseres gesamten emotionalen Zustands. Der Buddha hat in vielen Sutras die Frage eindeutig beantwortet, was mit Gefühlen geschehen muss. Ein angenehmes Gefühl muss als angenehm, ein schmerzliches Gefühl muss als schmerzlich gefühlt werden. Das sind keine sprachlichen Floskeln. Gefühle müssen als solche gefühlt werden und sich in unserem eigenen Bewusstsein ausdrücken dürfen, dann werden sie sich verändern. Weil wir mit uns selbst mitfühlen, wird sich unser Herz öffnen und die Weisheitsenergie wird ins Fliessen kommen. Sie wird uns mitteilen, was zu tun ist.

Gefühlsgewahrsein ist ein Schritt auf dem Weg der buddhistischen Geistesschulung, der Übung erfordert. Nach und nach können wir Bedrohliches integrieren, wir müssen es nicht länger zwanghaft nach aussen projizieren und durch Aversion in Schach halten.

Autor/Autorin des Textes: 
Sita Vajramati

Unterschiedliche Denkweisen in Ost und West

Vortrag gehalten anlässlich der Feier zum 120. Geburtstags Lama Govindas am 30.9.18 in Zalaszanto, Ungarn

Wenn Menschen, wie wir, die im westlichen Denken zuhause sind, Buddhismus studieren, werden sie zunächst ganz spontan auf ihre eigenen Denk- und Interpretationsschemata zurückgreifen, um sich zu erklären, was gemeint sein könnte. Das birgt die Gefahr von Irrtümern und Missverständnissen. Man meint buddhistische Begriffe zu verstehen, weil die Worte bekannt sind, aber sie bezeichnen etwas anderes. Sie stehen in einem kulturell und philosophisch ganz anders geprägten Bedeutungskontext, den wir im Westen nicht automatisch mitdenken können. Und so kommen wir auch gar nicht auf die Idee, dass es anders gemeint sein könnte als wir es verstehen. Umgekehrt - buddhistische Lehrer aus dem asiatischen Kulturkreis haben manchmal keine Ahnung davon, wie falsch wir etwas auffassen, von dem sie meinen, dass es doch sonnenklar sei. Auf diese Weise sind schon viele Irrwege beschritten worden.

Auf meinem Weg zur Buddhistin war das eine schmerzliche Begleitmusik und deshalb habe ich beide Systeme gründlich studiert um als Übersetzerin tätig sein zu können.
Heute bin ich Leiterin eines Meditationszentrums, buddhistische Lehrerin, Konfliktberaterin und Coach für Führungskräfte in freier Praxis in Schaffhausen, seit nunmehr über zwanzig Jahren.

Ein Gedankenexperiment

In meinem Vortrag möchte ich an einem Beispiel herausarbeiten wie unterschiedlich das Verstehen ist, je nachdem ob ich Begriffe im westlich-christlichen oder im östlich-buddhistischen System interpretiere.

Es ist mir ein Anliegen, dass Sie mit einer lebendigen Erfahrung nach Hause gehen, deshalb möchte ich Sie bitten sich auf eine Reihe von Gedankenexperimente einzulassen.

Ich lese ihnen jetzt eine Aussage des Dalai Lama vor, zunächst die erste Hälfte und bitte Sie den angefangenen Satz ganz spontan zu vollenden. Schreiben Sie auf, was Ihnen als Fortsetzung des Satzes einfällt. Im zweiten Schritt lese ich Ihnen vor wie der Dalai Lama den Satz fortsetzt.

„Wir können ohne die anderen nicht glücklich sein. Darum müssen wir...“

Bitte vervollständigen Sie den Satz nun mit ihren eigenen Worten und schreiben sie es für sich auf.

Nun lese ich den zweiten Teil des Satzes vor und bitte Sie, Ihre Schlussfolgerung mit der Empfehlung des Dalai Lamas zu vergleichen.

„Wir können ohne die anderen nicht glücklich sein. Darum müssen wir...“

„..unseren Geist darin üben zu erkennen, dass er nicht getrennt von anderen existiert.“

Ich hoffe Sie sind genauso verblüfft wie ich. Ich habe dieses Experiment im Selbstversuch auch gemacht, um meinen westlichen Denkmustern auf die Spur zu kommen. Wenn ich unbuddhistisch denke, dann schliesse ich aus der Erkenntnis, dass ich ohne die anderen nicht glücklich sein kann, dass ich mich um meine Beziehungen kümmern muss.

Die östlich- buddhistische Sichtweise, die aus der Aussage des Dalai Lamas spricht, verweist mich auf eine tiefere Wahrheit: Wir können ohne die anderen nicht glücklich sein, weil wir gar nicht getrennt von anderen existieren.

An diesem Beispiel lassen sich die Unterschiede zwischen dem westlich-christlichen und dem östlich-buddhistischen Denksystem gut veranschaulichen.

Im westlich-christlichen System
- geht die Bewegung nach aussen (instinktiv überprüfe ich mein Beziehungsnetz)
- sie ist objektivierend, (wo könnte ein Problem bestehen)
- und analytisch differenzierend (woran könnte es liegen)
- und aktiv Problem lösend (was sollte ich unternehmen)

Im östlich-buddhistischen System
- geht die Bewegung nach Innen (ich muss den Geist üben, zu erkennen )
- weg von der äusseren Tatsache (wir können ohne die anderen nicht glücklich sein)
- hin zu ihrem universellen Grund (wir existieren gar nicht getrennt)
- statt Problembeseitigung durch äussere Aktivität
- geht es um ein tieferes Erkennen
- und um geistige Übung,
- mit dem Zweck, das individuelle Erleben mit der universellen Wahrheit in Übereinstimmung zu bringen.

Daraus folgt mit Notwendigkeit: Ich muss meinen Geist darin üben, die Wahrheit zu erkennen, dass er gar nicht getrennt von anderen existiert.

Fünf Prämissen

Diese Belehrung des Dalai Lama enthält eine Reihe von buddhistischen Prämissen, die unserem westlichen Denken fremd sind.

Prämisse Nr. 1: Wir müssen unseren Geist üben zu erkennen.
Dahinter steht die Erkenntnis des Buddha, dass alles vom Geist ausgeht, primär von Innen bewirkt wird und nicht von Aussen: Unser Glück und unser Unglück. Diese Sichtweise ist für westliche Menschen ungewöhnlich. Wir denken nach dem Verursacherprinzip, isolieren Faktoren, um sie gezielt beeinflussen zu können. Soziale Ungleichheit, Ungerechtigkeit, Krankheit, Klimawandel, Marktprobleme, Flüchtlingskrise, Naturkatastrophen – alles soll von Innen bewirkt sein und vom Geist ausgehen? Das klingt nach „selber schuld“. Ist das nicht eine unzulässige Subjektivierung objektiv gegebener, strukturell verursachter Konflikte?

Das Missverständnis liegt an dem Wort Geist. Geist meint im Buddhismus nicht das was wir im Westen darunter verstehen: Denken, Intellekt. Geist ist die Bezeichnung für das unfassbare Medium all unserer Wahrnehmungen, Gefühle, Gedanken und Handlungen.
Locker ausgedrückt: Geist ist im Buddhismus nicht assoziiert mit: Denken, Kopf, Oben, Ideal, Himmel, Gott - sondern mit: Innen, Zentrum, Universalität, Verbundenheit, Ganzheit, Herz, mit unserem tiefsten Sein.

Unseren Geist üben, heisst dann nicht eine neue Theorie zu lernen sondern unser tiefstes Erleben zu verändern und zwar dadurch dass wir unseren Geist im Erkennen üben.
Und was soll er erkennen? nicht dieses oder jenes, oder die Schuldigen, oder eine soziale Theorie, sondern etwas ganz Offensichtliches eine universelle Tatsache. Er soll erkennen: dass er nicht getrennt von anderen existiert.

Prämisse Nr. 2: es gibt gar nichts getrennt Existierendes
Nach der buddhistischen Lehre gibt es überhaupt nichts, das getrennt für sich alleine existieren würde. Wir denken und fühlen uns zwar getrennt von anderen und versuchen auch so zu leben. Aber wenn man tiefer schaut, wird man zu einer anderen Erkenntnis kommen. Es ist gar nicht möglich getrennt von anderen zu existieren. Wir atmen alle dieselbe Luft, haben denselben Heimatplaneten und sind auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen. Die Globalisierung zeigt uns das immer deutlicher.
Wenn wir trotzdem versuchen, ohne die anderen glücklich zu sein, kann uns das nicht gelingen, weil die existentiellen Bedingungen das gar nicht zulassen. Wir sind von einander abhängig ob wir das wollen oder nicht. Das untersteht nicht unserem Willen. Die Wahrheit ist immer und überall dieselbe: Alles was existiert ist wechselseitig voneinander abhängig und auch nur durch gegenseitige Einwirkung entstanden.

Prämisse Nr. 3: Wir können nicht glücklich sein, weil wir die Wahrheit nicht erkennen
Umgekehrt: Wenn wir sie erkennen würden, könnte unser Leiden aufhören. Darum müssen wir unseren Geist im Erkennen der Wahrheit üben. Unser Unglück kommt also daher, dass unser Denken nicht mit dem übereinstimmt, wie es wirklich ist. Was ist wirklich? Was ist die Wahrheit? Im Westlichen Denksystem verstehen wir darunter entweder einen Gegenstand der Wissenschaft den man mit objektivierenden Methoden beweisen kann, oder etwas Höheres, für das die Religion zuständig ist, das man glauben muss.
Buddha hat sich konsequent sein ganzes Leben lang jeglicher metaphysischen Spekulation enthalten und das tut auch der Dalai Lama. Im Buddhismus wird unter Wahrheit etwas anderes verstanden. Wahrheit wird durch Vertiefung gefunden. Im Erleuchtungserlebnis wurde der Buddha allwissend. Nicht im Sinne enzyklopädischer Gelehrsamkeit sondern in bezug auf drei Aspekte die er das dreifache wahre Wissen nannte.

Das erste war die Wahrheit der Nichtdauer
Nichts dauert weder Subjekt noch Objekt, weder Geist, noch Seele, noch Materie – es gibt Kontinuität durch Wandel aber keine bleibende Substanz, die sich wandelt.

Das zweite war die Wahrheit abhängigen Entstehens
Es ist alles aufeinander bezogen, bedingt sich und verändert sich wechselseitig nach der Gesetzmässigkeit von Ursache und Wirkung

Das dritte war die Wahrheit von der Entstehung des Leidens durch das Nichterkennen der Wahren Wirklichkeit.

Unter Wahrheit werden im Buddhismus die fundamentalen Tatsachen des Lebens verstanden, die überall und zu allen Zeiten dieselben sind und die jedermann und jede Frau erkennen kann. Wahr ist, was universell gültig ist. Eine solche fundamentale wahre Wirklichkeit ist unsere gegenseitige Abhängigkeit, auf die der Dalai Lama verweist und diese Wahrheit gilt es zu erkennen. Was heisst erkennen?

Prämisse Nr. 4: Erkennen muss geübt werden.
Im Westen ist Erkennen gleichbedeutend mit begrifflichem Verstehen, es ist das Resultat einer intellektuellen Anstrengung. Der Ort der damit assoziiert wird ist das Gehirn. Im östlich-buddhistischen Verständnis ist Erkennen eine Sache des Herzens, der Introspektion und Intuition, unter Beteiligung aber nicht unter Vorherrschaft des Intellekts. Die Grenzen begrifflichen Denkens müssen überschritten werden. Erst das kann zu tiefem Erleben führen, das den ganzen Menschen ergreift und wandelt. Auch bei uns ist ja wechselseitige Abhängigkeit und globale Vernetzung längst erkannt, aber eben ohne dass sich der destruktive Umgang mit uns selbst und unseren Lebensgrundlagen verändert hätte. Buddhistisch gesehen liegt das daran, dass es nicht tief genug erkannt ist, wir wissen es nur begrifflich, nicht mit dem ganzen Sein, sonst könnten wir uns gar nicht mehr so destruktiv gegenüber dem Leben verhalten wie wir das tun.

Deshalb sagt der Dalai Lama: Diese Art des Erkennens muss geübt werden, auch von Buddhisten, von allen Menschen
- dann sind wir weder einsam und unglücklich noch
- können wir weiter unsere Lebensgrundlagen schädigen, weil wir mit unserem tiefsten Selbsterhaltungsinteresse als Einzelwesen und als Gattung Mensch verbunden sind.

Prämisse Nr. 5: Daher geschieht tiefgreifend wirksame Veränderung
durch geistige Übung
Auch das ist für westliche Denkgewohnheiten schwer akzeptable. Warum? Bei Veränderung denken wir an durchgreifende Lösungsstrategien auf der politischen Handlungsebene, die mit Macht durchgesetzt werden müssen. Geistige Übung braucht im Westen die Befreiung von der Welt. Dagegen: Politisches Handeln und geistige Übung sind im Buddhismus nicht als Gegensätze konzeptionalisiert. Das zeigt uns das umfassende Engagement des Dalai Lama. Mehr noch: Nach buddhistischer Überzeugung wird Handeln nur dann fruchtbar sein, wenn es durch geistige Übung mit der Weisheit des Lebens in Übereinstimmung gebracht ist.
Wenn westliche Menschen diese ganzheitliche Sichtweise nicht mitdenken, scheint ihnen der Buddhistische Zugang, mit geistiger Übung die Welt verändern zu wollen, unpolitisch idealistisch und beschränkt.

Zusammenfassung

Das westliche Deutungssystem beruht auf der Annahme einer Getrenntheit von Subjekt und Objekt, unsere Denkgewohnheiten folgen einer dualen Logik. Der Mensch steht der Schöpfung gegenüber, die er sich im Auftrag des christlichen Gottes untertan machen soll.
So sind wir seit 2000 Jahren christlich abendländisch geprägt, auch wenn wir an die Bibel nicht glauben. Das bedingt ein gespaltenes Verhältnis zu unserer Natur, das heisst sowohl zu unserem Körper als auch zu unseren natürlichen Lebensgrundlagen. Der sogenannte Geist hat seine ursprüngliche Verbindung mit dem Boden verloren. – Er schwebt über den Wassern und über der Erde - Materie ist sein Objekt, zu dem er in eine funktionale Beziehung tritt.

Im buddhistischen Deutungssystem wird Wirklichkeit ganz anders als ein Zusammenwirken von Kräften verstanden. Wirklichkeit gestaltet sich in jedem Moment neu, sie ist prinzipiell offen und unabgeschlossen. Strenggenommen gibt es überhaupt kein Sein – als etwas Statisches. Es gibt nur Werden. Wo nur dynamische Prozesses wirklich sind, kann es keinen Dualismus geben, sondern nur Bezogenheit in einem prinzipiell unabgeschlossenen Kontinuum. Alle Dinge sind in einem vorübergehenden Zustand. Es gibt Verschiedenheit:
Subjekt und Objekt, Geist und Materie, Leben und Tod sind nicht dasselbe aber in bezug auf ihre wahre grundlegende Existenzweise unterscheiden sie sich nicht: Sie sind alle nicht von Dauer und existieren nur in gegenseitiger Abhängigkeit.

Ich hoffe ich konnte Ihnen vermitteln, dass christlich-abendländisches und östlich-buddhistisches Denken sehr verschiedenen Logiken folgen. Das buddhistische System ist nondual und nicht theistisch. Das abendländische System ist dualistisch und theistisch. Das gilt es nicht zu bewerten, sondern im Bewusstsein zu halten. Wenn wir als Abendländer buddhistische Lehren hören ist es ganz normal, dass wir sie zunächst in unserem Denksystem auffassen. Wir verstehen sie als blosse Theorie und Ideologie, die man glauben kann oder nicht. Oder wir empfinden sie als eine moralische Anforderung, der wir folgen müssen, um ein guter Mensch zu sein – auf jeden Fall als etwas, das von aussen auf uns zu kommt. Für einen in Asien geborenen praktizierenden Buddhisten sind seine Anschauungen dagegen lebendige Erfahrung und westliche Sichtweisen blosse Theorie, bzw. unerleuchtetes Denken.

Schädliche Auswirkungen

Wenn wir Abendländer vom Buddhismus lernen wollen müssen wir also die Verschiedenheit der Deutungssysteme berücksichtigen. Wie schädlich sich das auswirkt, wenn wir das nicht tun, möchte ich zum Schluss an einem weiteren Beispiel verdeutlichen.

Es gibt eine viel zitierte Äusserung Shantidevas, eines indischen Gelehrten des 8. Jahrhunderts, die besagt:

Alles Glück kommt von der Sorge um das Wohl der anderen und alles Leid kommt von der Sorge um mein eigenes Wohl.

Christlich abendländisch verstanden hört sich das an wie eine Aufforderung zu noch mehr Spaltung, zu noch mehr Selbstverleugnung und Selbstverzicht.. Statt die Gleichheit aller Wesen zu assozieren, schliesst im westlich dualistischen Denken die Sorge um das eigene Wohl das der anderen aus. Um ein guter Mensch zu sein muss ich daher das eigene Wohl opfern. Die buddhistischen Worte berühren den Archetyp des heroischen Selbstopfers, das sich in moralischer Überhebung über das eigene Leiden und das Leiden der Welt in höheren Sphären ein Denkmal setzt. Das ist nicht Buddhas und auch nicht Shantidevas Lehre.

Im Westen wirkt sich dieses Missverständnis vor allem für solche Menschen schädlich aus, die im Recht auf ihr eigenes Wohl missachtet und misshandelt worden sind und die ihr Leiden dadurch kompensieren, dass sie sich für das Wohl anderer einsetzen. Sie helfen anderen anstatt sich selber zu helfen, spalten damit das eigene Leiden ab und finden ersatzweise Trost und Wert im Bemühen ein Ideal zu erfüllen. Der Buddhismus hilft dann zur ideologischen Begründung an der Spaltung zwischen dem eigenen Wohl und dem Wohl der anderen festzuhalten.

Gemeint ist es anders, der buddhistischen Weisheit Shantidevas liegt dieselbe nonduale Logik zugrunde wie der Äusserung des Dalai Lamas.
Ich kann ohne die anderen nicht glücklich sein, weil ich gar nicht getrennt von anderen existiere, wenn ich dann nur für mein eigenes Wohl sorge wird das Leiden bewirken.
Aber wenn ich nur für das Wohl der anderen sorge wird das auch Leiden bewirken.
Deshalb muss ich meinen Geist darin üben, diese Wahrheit zu erkennen.

Leider kennen buddhistische Lehrer aus dem östlichen Kulturraum unsere westlichen Prägungen zu wenig, um der Gefahr so missverstanden zu werden, begegnen zu können.

Ich würde mir sehr wünschen, dass buddhistische Lehrer und ihre Schüler die unterschiedlichen Voraussetzungen berücksichtigen würden, die für das Verständnis der Lehre des Buddha im Osten und im Westen gegeben sind.

Autor/Autorin des Textes: 
Sita Vajramati

Freiheit und Gelübde, Zuflucht nehmen

Freiheit und Gelübde, Zuflucht nehmen

Gelübde binden

Gelübde spielen auf dem buddhistischen Weg der Geistesschulung eine grosse Rolle.
Wenn man die Lehre des Buddha selber für wahr erkannt hat, kann man in einem Ritual das Zufluchtsgelübde nehmen.
Wir geben uns selbst das Versprechen, Glück nicht mehr in vergänglichen Äusserlichkeiten zu suchen, sondern uns konsequent um die unbedingte innere Quelle des Glücks zu bemühen, die unsere eigene Buddhanatur ist. Dazu gehen wir den Weg der buddhistischen Geistesschulung. Das Bodhisattvagelübde besteht kurz gesagt darin, das auf diesem Weg erreichte, mit allen Wesen zu teilen.

Buddhistische Gelübde sollen uns nicht knebeln oder fesseln, sie sind auch nicht der Eintritt in eine buddhistische Kirche, sondern sollen uns auf unserem Befreiungsweg unterstützen. Natürlich reagieren wir auf diese Mittel mit den Assoziationen aus unserem Kulturkreis und mit den Erfahrungen aus unserem persönlichen Leben. Das löst ambivalente Gefühle aus. Was kennen wir an Gelübden? Das Beichtgelübde, das Ehegelübde, das Keuschheitsgelübde. An keinem der in unserem Kulturkreis vorkommenden Gelübde haftet der Geruch der Freiheit, im Gegenteil, Gelübde sollen binden.

Dualistischer Freiheitsbegriff

Der spirituelle Befreiungsprozess kann nur dann wirken, wenn wir uns ernst nehmen und da anknüpfen, wo wir stehen, um die Hindernisse, die wir erkannt haben, aufzulösen.
Dann erst können wir aufnehmen, wie es wirklich gemeint ist. Was sind diese Hindernisse? Unsere Gedanken und Gefühle. Wir interpretieren Gelübde nach den Vorgaben unseres dualistischen Bewusstseins – das kann nicht anders sein – und das macht uns leidend. Was sehen wir so: Eine Forderung, die von aussen an uns herangetragen wird, wir sollen etwas tun und wenn wir das nicht tun, bleiben wir aussen vor. Dagegen wehrt sich das Ego, denn hier scheint es um Macht und um Unterordnung zu gehen. Das Ego ist unsere bewährte Überlebensstrategie, es fühlt sich als Retter und Bewahrer unserer individuellen Freiheit, für die wir so lange gekämpft und gelitten haben. Es hat sich eingerichtet mit dem Unvermeidlichen und seine kleinen Fluchten und Kompensationen gefunden. Fernsehen, Gutes Essen, Wein, Hobbys, Sex, Reisen, Abenteuer, Unterhaltung, Anerkennung, Ruhm und Geld, Konsum und Besitz. Sollen wir diese bisherigen Zufluchten aufgeben, wenn wir Zuflucht zum Buddha nehmen? Das würde ja bedeuten, dass ich meine schwer errungenen Freiräume nicht mehr so füllen kann, wie ich es möchte; dass nicht mehr Ich über meine Freiheit verfüge. Hier spricht das Ego. Ein zweites Argument hält das Ego bereit: ich will mich nicht auch noch in meiner Freizeit damit unter Druck setzen, dass ich meditieren muss und ein schlechtes Gewissen haben, weil ich ein Gelübde abgelegt habe. Anstrengung und Druck erlebe ich sonst schon genug.

Dieses Ego nehmen wir jetzt innerlich an die Hand und erkennen es in seiner Angst an. Das Ego hat Angst vor Überforderung und moralischem Druck und interpretiert Freiheit als Verfügungsmacht.
Können wir das verstehen und können wir Mitgefühl mit uns haben? Wenn ja, kann der Prozess weitergehen, wenn nein, bleiben wir stecken. Der nächste Schritt ist die geduldige Untersuchung und Überprüfung unserer Vorannahmen. Buddha nannte das Wahrheitsergründung. Wir haben Angst unsere Freiheit zu verlieren, wenn wir ein buddhistisches Gelübde auf uns nehmen. Stimmt das? Wie frei sind wir überhaupt?

Eigene Erfahrung

Als ich mir in meinem eigenen Prozess diese Frage stellte, musste ich erkennen, dass meine Freiheit nur darin bestand, mich nicht zu binden. Ich wollte frei sein für das, was eventuell auf mich zukommen könnte. Diese Freiheit war nur negativ definiert. Es war schmerzlich zu erkennen, dass das Offenhalten aller Potentialitäten nur dahin führte, dass ich letztendlich von aussen bestimmt wurde: Durch Ereignisse, durch die Erwartungen anderer, durch Aufgaben, die an mich herangetragen wurden. Ich war froh und stolz all diesem entsprechen zu können, weil ich so frei und flexibel war. Mir fiel gar nicht auf, dass ich nicht mein Leben lebte, sondern mich damit identifiziert hatte, die Erwartungen anderer bestmöglich zu erfüllen.

Recht auf spirituelles Leben

So kann ich heute rückblickend sagen, dass ich mich nicht binden konnte, weil ich schon gebunden war, nämlich an das Gebot mich zur freien Verfügung zu halten. Entsprechend brisant fühlte es sich an, das Zufluchtsgelübde zu nehmen. Es war eigentlich verboten, denn ich behauptete für mich das Recht, ein Ziel anzustreben, das mich aus all diesen Konditionierungen herausführen würde. Glauben konnte ich das damals noch nicht. Aber die Sehnsucht nach Befreiung war da. Als lebendige Verkörperung dieser Möglichkeit stand meine Lehrerin Vajramala vor mir, die das Ritual leitete. Ich setzte damals ein Zeichen, warf einen Anker, um mir nicht mehr verloren zu gehen.

Die Entstehung des Zufluchtsrituals

Die psychologische Situation der Menschen zu Buddhas Zeiten war nicht so verschieden von der unsrigen heute. Das Zufluchtsgelübde ist aus der Sehnsucht der damals Suchenden entstanden, dem Buddha zu folgen. Es gab ja viele Lehrer in der damaligen Zeit. Aber in dem Menschen Siddharta Gautama erlebten und erkannten sie einen vollständig Befreiten und Erwachten. Wie wir aus den Schriften wissen, überzeugte er durch seine ganzheitliche Ausstrahlung, seine Worte und Redeweise und durch seine Weisheit. Er erkannte, was jeder brauchte, der zu ihm kam und entsprechend lehrte er.

Der Buddha sammelte keine Schüler, gründete keine Kirche, wollte niemanden missionieren, wollte auch die äussere gesellschaftliche Ordnung nicht umwälzen, wollte keine Macht, wollte keinen Ruhm und kein Geld. Sein Wirken war völlig frei von egoistischen Bestrebungen, gerade deswegen war es so Vertrauen erweckend. Nicht er hat die Zuflucht erfunden und Gelübde verlangt, sondern die, die ihm folgen wollten.

Das Zufluchtsritual entstand spontan. In den Sutren wird berichtet: wenn eine Begegnung gelungen war, der Erwachte sein Gegenüber erreicht hatte und die Belehrten erkannten, das ist es doch eigentlich, wonach ich die ganze Zeit gesucht habe, fragten sie ihn, wie kann ich damit in Kontakt bleiben, wie kann ich dein Schüler werden.
Der Buddha antwortete darauf: Ganz einfach, in dem du jetzt dreimal die Zufluchtsformel sprichst:

Ich nehme Zuflucht zum Buddha
Ich nehme Zuflucht zum Dharma
Ich nehme Zuflucht zum Sangha.

Das war vielleicht irgendwo auf dem freien Feld, ohne Zeugen und ohne Weihrauch, Blumen und Kerzen. Bis heute ist das Zufluchtsgelübde in dieser Einfachheit erhalten
geblieben. Wir können das kaum glauben. Immer wieder werde ich gefragt, ob das auch wirklich nichts Äusserliches bedeutet. Nein, es ist aus der Sehnsucht der Schüler entstanden, sich an den Buddha, der für sie das erwachte Sein verkörperte, zu binden.

Flucht oder Zuflucht

Später, als der Sangha grösser wurde und Ansehen erlangte, kamen auch noch andere Motive ins Spiel: Flucht vor der Familie, vor Pflichten, vor Strafe, vor Armut, vor Bedeutungslosigkeit, vor Krankheit. Im Sangha gab es kostenlose medizinische Betreuung und die Mönche waren sogar vor der Macht des Königs sicher. Das schadete der buddhistischen Befreiungsbewegung. Deswegen wurde der Buddha von Mitgliedern des Sanghas gebeten, Regeln zu erlassen. Er legte fest, dass junge Menschen die Erlaubnis ihrer Eltern einholen mussten, und dass Kranke und Straftäter nicht zugelassen waren. Zuflucht darf keine Flucht sein, denn dann hilft sie nicht zur Befreiung, sondern führt zur Fortsetzung des Leidens.

Ja zum Wunsch nach Befreiung

Die echte Zuflucht speist sich aus der Sehnsucht, ein freier und glücklicher Mensch zu werden. Das ist ein Funke, den wir alle in uns tragen, das ist der Buddha, die Möglichkeit des Erwachens in uns. Durch die Begegnung mit der buddhistischen Lehre wird dieser Funke zum Feuer entfacht, das ist der Dharma. Durch Menschen, die uns das vorleben, entwickeln wir Zuversicht dass das Ziel erreichbar ist, das ist der Sangha. Wir nehmen also letztendlich Zuflucht zu uns selber, indem wir Ja zu dieser Sehnsucht sagen und ihr folgen.

Als ich Lama Govinda durch seine Bücher kennenlernte, da erlebte ich dieses Ja. Als ich den Menschen im Himalaja begegnete, erlebte ich es wieder, dieses Ja. Eine buddhistische Kultur, in der Menschen freier und glücklicher leben als bei uns, ist möglich; und als ich Vajramala, die Dharmaerbin von Lama Govinda gefunden hatte, wurde es zur Gewissheit: Das ist es doch, was ich immer schon wollte. Ich will heim zu meinem wahren innersten Wesen, zu meinem befreiten Sein.

Verbote und Verführungen

Wenn wir nun das Zufluchtsgelübde erwägen und unsere ambivalenten Gefühle dazu betrachten, taucht unweigerlich die Frage auf: Darf ich das denn überhaupt? Durfte ich das je, mein befreites Sein wollen und mich so ernst und wichtig nehmen, dass ich es mit allen Mitteln anstrebe? Was sagt es dazu von Innen? Hier eine Auswahl von möglichen Kommentaren: Das ist verantwortungsloser Egoismus. Das gibt es gar nicht. Du musst Pflichten erfüllen, Du musst für mich/ die Familie/ die Kinder/ die Anderen.... da sein. Du musst ein gottgefälliges Leben voller Mühe und Arbeit führen, Befreiung und Glückseligkeit sind erst nach dem Tod zu erwarten. Diese Stimmen aus dem konventionellen Bewusstsein nennt man im Buddhismus „Mara“. Es sind Hindernisse, die dem Befreiungsprozess entgegenwirken. Als der Buddha seine Erleuchtung erlebte, traten auch Hindernisse auf. Es waren Gedanken, die ihm anboten, mit seiner All- Wissenheit nun die Welt zu beherrschen oder sich zurückzulehnen und sein Glück alleine zu geniessen.

Alle Heiligen, das heisst heil/ganz gewordenen werden auf diese Weise geprüft, das überliefern auch die abendländischen Legenden. Haben sie wirklich die Selbstentzweiung durch dualistisches Bewusstsein überwunden? Für unseren eigenen Prozess ist bedeutsam, dass der Buddha genau wie wir ein richtiger Mensch war, der mit Hindernissen zu kämpfen hatte. Er überlegt, ob es nicht zu mühsam sei, seine Weisheit mit anderen zu teilen? Da treten auf: Mara, der Herr der Finsternis, der die Freuden der Macht und des Selbstgenusses anbietet; und Saccha, der Herr des Himmels, der Götterkönig, der den Erwachten bittet, sich nicht von der Welt zurückzuziehen, sondern seine Mitwesen zu befreien. Es spielt das ewig menschliche Drama: Der Mensch Gautama Sakyamuni muss sich entscheiden, was er mit der erreichten Freiheit anfangen will. Hätte er seine Erleuchtung alleine geniessen wollen, wäre er für die Welt unschädlich geworden und wir hätten nie von dieser Befreiungslehre gehört. Wie viele beinahe Erleuchtete sind wohl so von der Weltbühne verschwunden?

Diese Geschichte ist auch für unseren eigenen Befreiungsweg bedeutsam. Wir stehen zwar nicht kurz vor der vollständigen Befreiung und Erleuchtung, erleben aber doch manchmal, besonders im Retreat einen Zipfel davon. Dann müssen wir jedesmal entscheiden, was fange ich mit dieser Erfahrung an. Geniesse ich mein befreites Sein, solange es anhält und falle dann zurück ins Leiden - oder gibt es dazu eine Alternative?

Das Bodhisattvagelübde

Es gibt diese Alternative in Form des Bodhisattvagelübdes. Es beinhaltet das Versprechen, nicht eher aufzugeben, nicht eher zu ruhen als bis vollständige Befreiung für sich selbst und für alle anderen erreicht ist. Das Bodhisattvagelübde schützt vor der egoistischen Fixierung auf die eigene Erleuchtung, es gibt unserer Übung Sinn und Ausrichtung zum Wohle des Ganzen. Es hält uns in der Bezogenheit, bewahrt uns vor dem Tod der Lebensverneinung und vor dem Gift der Isolierung. Lama Govinda hat es so ausgedrückt: Freiheit an sich ist sinnlos, wenn wir nicht wissen wofür wir frei sind. Der Bodhisattvaweg ist die natürliche Konsequenz eines undualistischen Freiheitsempfindens.

Bindung an die Treue zu sich selbst

Können wir jetzt verstehen, warum es überhaupt Gelübde braucht und welchen Sinn sie haben? Sie sind ein Versprechen, das wir uns in einem klaren Moment selbst geben. Sie sind starke Mittel, die uns auf dem Befreiungsweg halten oder zurückführen, wenn wir uns wieder verdunkeln. Gelübde wirken tatsächlich. Jeder, der versucht hat eine Ehe aufzulösen, weiss das. Im Unterschied zum Eheversprechen, binden wir uns mit buddhistischen Gelübden nicht an etwas Vergängliches, einen anderen Menschen, sondern an unsere unvergängliche Wesensnatur. Wir versprechen uns die Treue zu uns selbst:

Die Treue zu meinem wahren befreiten Wesen, das ist die Zuflucht zum Buddha
Die Treue zum Ziel der Befreiung und zum Weg dorthin, das ist die Zuflucht zum Dharma
Die Treue zur Mitmenschlichkeit, das ist die Zuflucht zum Sangha.
Und das solange, bis vollkommenes Erwachen und befreites Sein verwirklicht ist, aus Mitempfinden mit der Welt, zu meinem Wohle und zum Wohle aller anderen Wesen, das ist das Bodhisattvagelübde.

Drei Stadien der Zufluchtnahme

Solange das nur intellektuell verstanden ist, nehme ich die „äussere Zuflucht“. Wenn es zur inneren Notwendigkeit und erlebten Einsicht geworden ist, nehme ich die „innere Zuflucht“. Wenn ich zu meiner wahren Natur erwacht bin, nehme ich die „geheime Zuflucht“. Ich erlebe und erkenne, dass ich in Wahrheit nie von meiner wahren Buddhanatur getrennt war - und das war mir bisher verborgen. Alle Stadien der Zufluchtnahme sind erforderlich, keine kann übersprungen werden.

Permanente Übung

„Zuflucht nehmen“ ist also kein einmaliges Geschehen, sondern ein dynamischer Prozess, eine ständige Übung. Im Zufluchtsgebet heisst es: Bis ich das Wesen der Erleuchtung verwirklichen kann, nehme ich Zuflucht. Konkret bedeutet das, immer wenn ich abgelenkt, zerstreut und aus meiner Mitte herausgefallen bin, merke ich das und wende mich entschlossen der Meditation zu. Ich ergreife jede Gelegenheit, um meinen Geist in Wahrnehmung, Mitempfinden, Ruhe und Einsicht zu schulen und zwar mit allen Mitteln, die mir schon zur Verfügung stehen. Buddha, Dharma und Sangha unterstützen mich. So geschieht ein spiritueller Reifungsprozess, der zu wahrem Glück und vollständiger Befreiung führt.
Vortrag gehalten zum Dharmaworkshop am 23. August 2015

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Autorin: Sita Vajramati

Autor/Autorin des Textes: 
Sita Vajramati

Krankheit als Pfad

1. Die gesellschaftsstrukturellen Vorbedingungen
Krankheit spiegelt uns die Tatsache wieder, dass wir aus dem Gleichgewicht geraten sind. Darauf reagieren wir mit Gedanken, Worten und Taten. In unserer westlichen Welt gibt es dafür bestimmte Schemata, die wir verinnerlicht haben. Oberste Priorität hat die rasche Wiederherstellung der Funktionalität im Dienste ununterbrochener Verfügbarkeit und Beherrschbarkeit (unserer Körper sowie der Natur). Dafür gibt es das Gesundheitssystem und die Pharmaindustrie. Dies alles beinhaltet - bewusst oder unbewusst - eine ablehnende Haltung gegenüber Krankheit. Damit sind wir dem kranken Menschen, uns selber gegenüber, negativ eingestellt. Auch wir möchten möglichst schnell wieder über uns verfügen. So können wir nicht auf dem Pfad bleiben.

Um bei Krankheit auf dem Pfad bleiben zu können, darf man sich mit Krankheit weder identifizieren, noch sie ablehnen, vielmehr gilt es, sie als Gelegenheit wahrzunehmen, die spirituelle Übungspraxis zu intensivieren. In den Schriften heisst es:
- durch Krankheit werden Schleier gereinigt,
- Qualitäten werden hervorgebracht und
- deine Erkenntnis wird vertieft.

2. Der erste Schritt muss also sein, die vorhandene Haltung gegenüber meiner Krankheit ehrlich zu überprüfen: Wie geht es mir mit meinem Kranksein? Bin ich genervt, gestresst, ablehnend meiner Krankheit gegenüber? Will ich sie möglichst schnell weg haben? Bin ich verzweifelt, ohnmächtig, wütend, dass nichts hilft, oder dass ich schon wieder krank bin? Was ist meine geistige Haltung, was denke ich darüber? Wen oder was mache ich verantwortlich? Was sind meine Theorien und Konstruktionen, um mir die Krankheit zu erklären. Wie handele ich gegenüber meiner Krankheit: Bekämpfe ich die Symptome? Richte ich mich vorwiegend nach aussen und renne von einem Arzt, von einem Behandlungstermin zum anderen? Versuche ich die Krankheit zu ignorieren oder zu verleugnen und mache einfach weiter wie bisher? Quäle ich mich mit Fragen, warum trifft es mich? Oder mit Schuldzuschreibungen, was habe ich falsch gemacht? Leide ich tapfer und still vor mich hin? Oder ergreife ich energisch Gegenmassnahmen?

All dies gilt es nur ehrlich festzustellen, auch damit sind wir auf dem Pfad. Wir üben das Gewahrsein unserer Gefühle, Gedanken und Handlungsmuster, nicht um uns zu kritisieren, sondern um unser Gefangensein aufzulösen. Wie geht das? Dazu brauchen wir die buddhistische Sicht.

3. Die buddhistische Sicht
Es gibt nichts, das separat für sich alleine existieren würde, weder Gesundheit noch Krankheit. Gesundheit können wir nicht besitzen, Krankheit aber auch nicht. Deshalb ist Krankheit weder ein Persönlichkeitsmerkmal, noch ist sie ein blinder Zufall oder Schicksalsschlag, der mich wie aus heiterem Himmel getroffen hat, obwohl vorher alles in Ordnung war. Alles Entstandene ist aus bereits vorhandenen Bedingungen entstanden. Diese „meine Krankheit“(körperliches, psychisches, mentales Kranksein und Leiden) hat sich tatsächlich aus früheren Bedingungen heraus entwickelt und tritt jetzt unabweisbar zu tage. Alles Entstandene ist aber auch dem Vergehen unterworfen. So wie meine Gesundheit vergangen ist, so wird auch meine Krankheit vergehen. Sie vergeht, wenn die verursachenden Bedingungen aufgehoben werden, deshalb nützt alle Symptombekämpfung nur vorübergehend.

Das Leben – und auch mein individuelles Leben - hat die Fähigkeit, sich an seine Umwelt anzupassen, zu wachsen, sich zu regenerieren und im Gleichgewicht zu bleiben. Um sich zu regenerieren braucht das Leben Geburt und Tod und auch Krankheit. z.B. Fieber, Kinderkrankheiten u. a. Es gibt Krankheiten, die situativ bedingt sind und so auch wieder vergehen z. B. eine Lebensmittelvergiftung. Und es gibt Krankheiten, die karmisch bedingt sind. Alle Krankheiten haben Ursachen aber eine Grippe ist etwas anderes als eine Autoimmunkrankheit. Wir können mit allen Krankheiten üben, weil wir im unerleuchteten Zustand am Leiden, das die Krankheit verursacht, haften. Dieses geistige Haften verhindert oder erschwert die Heilung. In der Übung gilt es, das Haften zu erkennen und zu überwinden.

Karmisch bedingt heisst, dass die Krankheit durch menschliches Fehlverhalten gegenüber dem Leben verursacht wurde. Wenn wir in verblendeter Selbstüberschätzung die nötigen Schutzmassnahmen für das Leben versäumen, ist eine Grippe oder ein Unfall auch karmisch bedingt. Buddha hat die Wurzel dieses Fehlverhaltens in unserer Verblendung gefunden. Wir sind verblendet durch den Glauben an unser Ego, dessen Interessen wir glauben dienen zu müssen Deshalb sehen wir nicht, was das Leben braucht, was wir selbst und die anderen wirklich brauchen, um gesund zu bleiben. Auf die Erhaltung unseres Egos fixiert, können wir die Kostbarkeit des Lebens nicht erkennen. So fügen wir - in bewusster oder unbewusster Absicht - uns selbst und anderen Verletzungen zu. Das ist in der Vergangenheit geschehen durch uns selbst, durch unsere Eltern und unsere Vorgänger und deshalb erleben wir zwangsläufig heute die Folgen in Form von Krankheit. Manchmal liegen die ursächlichen Verletzungen so weit zurück, dass man sie nicht mehr erkennen kann. Deshalb ist in der Übung Vertiefung nötig.

Diese Betrachtungen sind eine Vorraussetzung dafür, sich mit vollem Ernst auf die Übung einlassen zu können. Sonst wirkt sie nicht. Dadurch übernehmen wir Verantwortung für das Leben und tun einen ersten Schritt, um unser jetziges Haften an den Konzepten unseres Egos aufzulösen. In der Regel ist das die Identifikation mit dem leidenden Opfer. Diese aufzugeben, und sich statt dessen - ohne die Spaltung in Täter und Opfer und ohne die Konzepte von Schuld, Sühne, Sünde und Strafe - auf die Suche nach Wahrheit zu begeben, ist nicht leicht. Sie führt uns zu einer nächsten Konfrontation: Wozu bin ich überhaupt unterwegs? Was ist Sinn und Ziel meines Lebens? Wofür will ich die mir verbleibende Kraft und Zeit einsetzen? Wenn man schwer erkrankt ist und sich für Therapien entscheiden muss (z.B. Operationen, Chemotherapie), sind diese Fragen sowieso unausweichlich.

Mit diesen Vorüberlegungen können wir verstehen, wenn es in den Schriften heisst, man soll Krankheit nicht ablehnen, sondern darin eine willkommene Gelegenheit sehen, altes negatives Karma zu beenden. Karma ist beendet, wenn wir unser verletzendes krankmachendes Denken, Fühlen und Verhalten beenden können und insofern keine neuen Ursachen für Leiden erschaffen. Das ist sehr schwer und erfordert grosses Mitgefühl, tiefes Schauen, Vertrauen und Hingabe. Das trainieren wir, wenn wir Krankheit zum Pfad machen.

4. Vertrauen und Hingabe haben wir noch nicht, weil wir noch keine positiven Erfahrungen mit der Übung gemacht haben. Da bleibt uns nichts anderes übrig, als auf alle die zu vertrauen, die vor uns diesen Weg gegangen sind. Buddhistisch Praktizierende nehmen Bezug auf Buddha, die grossen spirituellen Meister, ihre Lehrer in der Gegenwart, grosse Wesen, die uns ein Beispiel geben (z.B. Dalai Lama). Praktizierende anderer Religionen beziehen sich auf menschliche Wesen ihrer Traditionen. Alle können wir uns auf universelle Kräfte beziehen, deren Präsenz wir sicher schon einmal im Leben gespürt haben und die uns umgeben (Bodhisattvas, Schutzengel..)

5. Die nächsten Schritte
Wenn wir ernsthaft erkrankt sind, psychische oder körperliche Schmerzen haben, kreist unser Denken um diese Empfindungen, wir fühlen uns hilflos und ausgeliefert. Dies ist der fruchtbare Moment, in dem wir uns ganz bewusst zur Übung entschliessen. Wir begeben uns mit genügend Zeit an einen geschützten Ort, wo wir nicht gestört werden.
Wir ziehen unsere Aufmerksamkeit von den Symptomen ab und denken intensiv an Menschen, LehrerInnen und Vorbilder. Das heisst, wir nehmen geistig Kontakt zu hilfreichen Kräften auf, deren Wirken wir schon erfahren haben und die uns mit Vertrauen erfüllen. Wir rufen unseren inneren Heiler/Weisheitsgeist an.

Wir bitten all diese Kräfte um Segen und Unterstützung für unsere Praxis.
Traditionell heisst die Formel:
Gebt Euren Segen, dass diese Krankheit ein Teil meines Weges wird
Gebt Euren Segen, dass ich sie weder leugne noch bestätige
Gebt Euren Segen, dass ich sie als Helfer erlebe

Diese Bitte gilt es mit Inbrunst und Hingabe zu spüren, zu sprechen und zu wiederholen, das öffnet das Herz. Damit verankern wir unseren leidfixierten Geist in heilsamer Bezogenheit und spiritueller Geborgenheit, um im Leid, das wir uns im nächsten Praxisschritt anschauen, nicht unter zu gehen.

Normalerweise denken wir an unsere eigene Heilung, wir analysieren die Ursachen unserer Krankheit und gehen zum Arzt oder zur Therapie, um für uns selbst Heilung zu finden. Damit bleiben wir in der Enge unserer Selbstbezogenheit gefangen, das blockiert die tiefere Heilung. Statt dessen machen wir uns klar, dass es unzählige Wesen gibt, die an derselben oder einer ähnlichen Krankheit leiden wie wir. Das stellen wir uns richtig vor. Nicht um unser Leiden zu relativieren, sondern, um unser Herz zu weiten. Dadurch entsteht grösseres Mitgefühl. Vielleicht fällt es uns schwer, überhaupt für uns selbst Mitgefühl zu haben, aber wenn wir an unsere Mitwesen denken, denen es genauso wie uns geht, kann die Entfaltung grossen Mitgefühls in Gang kommen, indem wir ja dann auch aufgehoben sind. Wir kontemplieren also immer wieder den Gedanken

Wie bemitleidenswert sind alle Wesen, die von derselben Krankheit gequält werden wie ich.

Es geht nicht darum, sich deren Leid auch noch aufzuladen.Es geht auch nicht darum, das eigene Leid zu verleugnen und statt dessen das Leid anderer zu fühlen. Es geht darum, unser Herz zu öffnen für die Wahrheit des Leidens. Bei ernsthaftem Praktizieren werden wir erfahren, wie wir mit einer universellen Schwingung von umfassender Liebe und Barmherzigkeit in Kontakt kommen, die keine Emotion ist. Im Buddhismus wird sie Avalokiteshvara genannt. In diese eingebettet, lassen wir uns nun auf unsere eigene Krankheit ein, indem wir immer wieder folgendes Gebet wiederholen.

Mögen die unzähligen Lebewesen durch meine eigene Krankheit von ihren Krankheiten und Leiden erlöst werden.

Wie ist das zu verstehen? Christlich geprägt, wie wir sind, ist die Assoziation zu Christus, der für die anderen das Kreuz erleidet, naheliegend. Es geht aber um etwas anderes:
Das wichtigste bei diesem Schritt ist, dass ich meine Krankheit bzw. mein Krankheitserleben als Gabe hingebe und damit mein Haften loslasse. Wenn ich nur um meine Heilung ringe, komme ich automatisch ins Festhalten. Die Praxis des Gebens ist also ein geschicktes Mittel, um uns aus unserer eigenen Fixiertheit zu erlösen. Dadurch kommt die Lebensenergie als Heilungsenergie ins Fliessen. Dies ermöglicht, dass tiefere Dimensionen unseres Seins bewusst werden.

Wenn jetzt Schmerzen, Gefühle und Erinnerungen aufsteigen, greife ich nicht danach, ich bewerte nicht, analysiere nicht, lehne sie nicht ab, sondern lasse sie durch mich hindurchfliessen und gebe sie als Gabe hin in den offenen universellen Raum. Am besten macht man diese Übung im Liegen, um tief entspannen zu können. Ich lasse zu, dass sich die Schmerzen ausdrücken, im Wissen und Vertrauen, dass ich so dem Leben und dem Wohl aller Wesen am besten diene. Denn wenn ich sie festhalte, sie bekämpfe oder unterdrücke schade ich dem Leben und verhindere seine Erneuerung. Vielleicht fällt mir jetzt auf, dass ich das lange getan habe und so das Leiden fortgesetzt habe, das mir andere in der Vergangenheit zugefügt haben.

So kann ein emotionaler, geistiger und körperlicher Reinigungsprozess in Gang kommen, in dessen Verlauf wir die Ursachen unseres Leidens zutiefst verstehen, erleben und loslassen. Wenn wir so praktizieren, geschieht eine geheimnisvolle Verwandlung. Eingebettet in umfassendes Mitgefühl erleben wir unseren Schmerz und werden davon im eigenen Herzen berührt, weil wir in der Haltung gebender Liebe bleiben, können wir ihn zulassen und loslassen und unsere Hingabe mit allen anderen leidenden Wesen teilen. So verwandelt sich Schmerzenergie in Liebesenergie. Wenn die Dynamik des Prozesses abgeklungen ist, gilt es, solange wie möglich in der Empfindung von Wahrheit, Klarheit und allumfassender Liebe zu verweilen.

Diese Praxis, mit allen Übungsschritten, ist so oft wie möglich auszuführen. Die Worte, die wir in den Gebeten sprechen, können sich dem inneren Erleben anpassen. Z.B. können wir die Art unseres Leidens konkret benennen. Es ist wichtig, dass wir sagen, was wir fühlen und dass wir fühlen, was wir sagen. Formalismus hilft nicht. Wir kehren aber immer wieder zu den einfachen traditionellen Formulierungen zurück, sie enthalten alles und haben die meiste Kraft. Keiner der Übungsschritte ist verzichtbar. Sie führen schrittweise in die Tiefe. Es offenbaren sich zunehmend die Ursachen und Bedingungen unseres eigenen Krankseins und wir verstehen gleichzeitig aber auch immer tiefer das Leiden unserer Mitwesen.
Im Anschluss an die Übung können wir darangehen, das Erkannte zu verwirklichen und zwar überall: in unseren alltäglichen Beziehungen, bei der Arbeit, oder im Krankenhaus. Der Wunsch, mögen die unzähligen Lebewesen durch meine eigene Krankheit von ihren Krankheiten erlöst werden, wird sich dann ganz konkret erfüllen und zwar dadurch, dass wir immer fähiger werden, auch anderen aus ihren Verstrickungen herauszuhelfen.
Übungsanleitung erprobt und ausgearbeitet nach der Anleitung in: Karmapa Wangtchug Dordje, Mahamudra – Der Ozean des wahren Sinnes, Münster 2009, S. 252

© Ute Volmerg, alle Rechte vorbehalten

Autor/Autorin des Textes: 
Sita Vajramati

Spirituelle Entwicklungschancen in der Partnerschaft

Spirituelle Entwicklungschancen in der Partnerschaft

„Es ist besser, geliebt und gelitten zu haben, als nie ein Liebender gewesen zu sein.“
Lama Govinda

Wenn man ernsthaft praktiziert, kommt man früher oder später an der Frage vorbei: wie steht es mit meiner Partnerschaft, ist sie förderlich oder hinderlich für den spirituellen Entwicklungsweg? Es kann auch die Angst aufkommen, den Partner zu verlieren, weil er oder sie andere Interessen hat und ein Entfremdungsprozess einsetzt. Oder es entstehen Aggressionen, weil der Partner immer wieder negative Verhaltensmuster aktiviert, die man schon überwunden glaubte. Aber auch Menschen, die alleine leben, fragen sich nach einer Weile des Praktizierens, ob sie sich nicht sozial isolieren und wertvolle Freundschaften verlieren. Umgekehrt gibt es, auch wenn Partner in derselben Richtung buddhistisch praktizieren, keine Garantie dafür, dass die Verbindung hält.

Als Leiterin eines Meditationszentrums sind mir diese Fragen vertraut, ich finde sie normal und wichtig. Auf meinem persönlichen Weg habe ich mich auch damit auseinandersetzen müssen. Da ich über zwei Jahrzehnte hinweg intensiv praktiziere und nicht Nonne bin, kenne ich die verschiedensten Zustände der Liebesbeziehung aus eigener Erfahrung: verliebt, verlobt, verheiratet, getrennt, geschieden, - lebe ich heute zwar alleine aber bezogener den je. Die Herausforderungen, achtsam in Beziehung zu sein, sind dieselben geblieben und die Freuden und Leiden der Paardynamik können sich auch in Freundschaften jederzeit wieder einspielen.

Was ist Paarbeziehung und was passiert mit der Liebe, wenn zwei Menschen länger als Paar zusammenleben? Das will ich im Folgenden untersuchen. Es kann helfen, sich nicht mehr als Opfer einer scheinbar unverständlichen Eigendynamik zu erleben, sondern ihre tiefere, innere Logik zu verstehen. Nur so können die Entwicklungschancen, die in dieser Lebensform liegen, bewusst wahrgenommen werden. Nichts geschieht einfach zufällig, sondern alles hat seine innewohnenden Gesetzmässigkeiten – lehrt der Buddha - so auch die Veränderungen in unseren Paarbeziehungen. Um diese zu erfassen, muss man genau hinschauen: Wie und warum bilden sich eigentliche Paare?

Die Paarbildung beruht auf dem Prinzip der Ähnlichkeit. Was ähnlich ist, zieht sich an. Menschen finden sich, verlieben sich und wählen einander als Partner, weil sie sich gegenseitig erkennen. Das ist keine äussere oder oberflächliche Ähnlichkeit, sondern eine tiefe zunächst unerklärliche Empfindung, einander zu verstehen, zueinander zu passen und füreinander bestimmt zu sein. Die Verständigung geschieht müheloser als mit anderen auch ohne viele Worte. Jeder gibt mit Liebe und Freude, das was er kann, und lässt die Unstimmigkeiten erst einmal beiseite. Die Erfahrung des Glücks der Übereinstimmung oder wechselseitigen Ergänzung ist so stark, dass sie alles andere in den Schatten stellt. Die Quadratur des Kreises scheint gelungen. Im Vertrauen auf diese Möglichkeiten entwickelt das Paar gemeinsame Ziele und Interessen und riskiert es vielleicht, den Bund fürs Leben zu schliessen.

In den Märchenbüchern hört hier die Geschichte mit der Salomonischen Formel :“und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute“ auf. In der Realität beginnt aber früher oder später nach dem Höhepunkt des Glücks der Abstieg und weil es dafür keine Anleitung gibt, endet die Liebe nicht selten mit dem Tod der Paarbeziehung und führt nicht in eine Transformation. Das ist traurig und beängstigend zugleich und löst in der Regel eine Reihe von Gegenmassnahmen und Rettungsversuchen aus. Sie wären wirkungsvoller, wenn sich das Paar dem stellen könnte, was tatsächlich passiert.

Und was passiert eigentlich? Die Partnerwahl aufgrund unerklärlicher Anziehung hat ihre Rückseite. Es sind eben nicht nur die hellen Seiten des Paares ähnlich, sondern auch die dunklen. Wenn Interessen, Wünsche, Lebensmotive, Eigenschaften, Einstellungen und Verhaltensweisen zweier Menschen zueinander passen, dann auch die Erfahrungen, aus denen heraus sie geboren und entwickelt wurden. Partner wählen einander- das ist zunächst unbewusst- auch aufgrund ähnlicher Verletzungen und existenzieller Grundschmerzen. Sie sind anfangs fasziniert von den Überlebenstechniken, die der jeweils andere entwickelt hat, und erhoffen sich davon auch für sich neue Möglichkeiten. Die unerklärliche Anziehung hat ja zumeist hierin ihren Grund: in der beglückenden Erfahrung tiefer seelischer Übereinstimmung und der darauf gegründeten Hoffnung, einander durch die Liebe heilen zu können.

Das geht auch eine Weile gut, doch dann sind tiefere Entwicklungsprozesse angesagt. Ob sich das Paar diesen stellen kann, ist entscheidend für seinen Fortbestand. Was das heissen kann, möchte ich an einem Beispiel erläutern. Ich nenne die beiden Hans und Lene, die eines Tages in meine Beratungspraxis kamen, und um professionelle Hilfe in ihrer Ehekrise baten. Sie seien mit ihren Möglichkeiten am Ende. Die Ausweglosigkeit hatte sich bei beiden auch körperlich gezeigt: bei ihr erkrankte die Lunge, bei ihm der Rücken. Das Leiden hatte beide zum Nachdenken gebracht, sodass jeder für sich eine Einzeltherapie begonnen hatte. Daran konnten wir nun anknüpfen. Lene schilderte wie ihr durch die Krankheit zu Bewusstsein gekommen sei, dass sie in den Jahren ihrer Beziehung nicht nur für sich, sondern auch für ihn mitgelebt habe, um seine Unlebendigkeit auszugleichen. Jetzt sei sie ausgebrannt und könne nichts mehr geben. Hans war durch sein Leiden klar geworden, dass er gar nicht lebendig sein durfte und lediglich im Funktionieren eine Daseinsberechtigung hatte. So wie beide ihre Geschichte schildern, fällt mir beim Zuhören auf, wie sehr Lene sich auch aktuell noch um ihn sorgt und seine Perspektive übernimmt. Hans scheint von dieser Zuwendung in keiner Weise berührt zu sein, obwohl er grosse Angst vor einer Trennung äussert. Er wirkt auf mich kalt und abweisend. An dieser Widersprüchlichkeit ansetzend, beginnen wir mit dem Ergründen der tieferen Motive.

Folgendes wird offenbar: Hans hatte eine überfürsorgliche Mutter, für die er genauso funktionieren musste, wie sie es vorsah. Er kam als eigenes Wesen mit eigenen Gedanken und Gefühlen nicht vor. Seine Lebendigkeit war aus der Beziehung ausgeschlossen. Er machte es der Mutter recht, wenn er sich äusserlich anpasste und keine Emotionen darüber erkennen liess. Er hatte in seiner Ursprungsfamilie einen paradoxen Liebesbegriff gelernt: Beziehung gibt es für mich nur, wenn es mich nicht gibt. Er verhält sich in der aktuellen Situation also seiner Prägung entsprechend richtig: er nimmt hin, was seine Partnerin für ihn meint, ohne ihr Resonanz zu geben oder etwas Eigenes zu zeigen. Dadurch wirkt er so kalt und unlebendig.

Lene ist in ihrer Ursprungsfamilie komplementär geprägt worden. Bei Spannungen im Familienklima zog sich der Vater in eisiges Schweigen zurück . Es war seine Form, zu bestrafen und Ansprüche geltend zu machen, wenn die Dinge nicht so liefen, wie er es wollte. Darunter litten seine Frau und die Kinder. Lene erhielt dann regelmässig von der Mutter den Auftrag, den Vater wieder zum Reden zu bringen. Das gelang ihr auch. Sie musste also im Dienste der Mutter ihre eigene Lebendigkeit dem Vater zur Verfügung stellen. Das hatte sie als Grundregel verinnerlicht, so durfte sie leben und lieben und zu diesem Preis durfte sie an Beziehungen teilhaben. Sie erlitt die Eifersucht der Mutter und sexuellen Missbrauch durch den Vater. Auch sie verhält sich also ihrem gelernten Liebesbegriff entsprechend korrekt als sie im aktuellen Paargespräch nicht an sich, sondern zuerst daran denkt, wie schlimm eine Trennung für ihren Mann wäre.

Wenn wir jetzt beides zusammensehen, wird deutlich, wie genau die gelernten Beziehungsmuster zu einander passen und wie tragisch sie einander ergänzen und herausfordern, sodass jeder in seiner Rolle fixiert bleibt. Jeder tut das, was ursprünglich als Liebesleistung von ihm verlangt worden war - meint es also gut mit dem anderen - und gleichzeitig fügen die Partner einander erneut die alten Verletzungen zu. Als ob zwei Ketten mit einem automatischen Schnappschloss versehen seien. Das macht ohnmächtig, verzweifelt und aggressiv und die Trennungsabsichten der beiden werden nachvollziehbar. Wir spüren aber auch, welcher Grundschmerz bei aller Verschiedenheit die Partner in der Tiefe verbindet: beide hatten kein Recht auf eine eigene Existenzweise, sie wurden nie um ihrer selbst willen geliebt, sondern für die Zwecke von Vater oder Mutter missbraucht und im Eigenen vernichtet.

Es ist eine Gesetzmässigkeit, dass wir von unseren Eltern die Liebe lernen. Sie sind nun einmal unsere ersten Liebes- und Beziehungspartner und geben uns das weiter, was sie selbst gelernt haben. Ein kleines Kind kann ohne seine Eltern nicht leben und wird alles lernen, was zu tun ist, um an die lebensnotwendige Zuwendung zu kommen. Das prägt unser Erleben und unser Verhalten in emotional abhängigen Beziehungen für das ganze Leben, auch wenn später noch andere Möglichkeiten dazu gelernt werden. Es ist sozusagen unser implizites Beziehungswissen, das besonders dann abgerufen wird, wenn die Verliebtheit in einer Partnerschaft vorbei ist und existenzielle Schwierigkeiten auftauchen. Dann werden die Überlebensgrundmuster aktiviert und es wird immer schlimmer statt besser. In dieser Phase kam das Paar in meine Beratung.

Ohne Kinder hätten sie sich vielleicht getrennt, wie viele es tun, die dann das Heil in einer neuen Partnerschaft suchen. - Es nützt nichts, da die Partnerwahl auf seelischer, buddhistisch ausgedrückt, karmischer Verwandtschaft beruht, landet man früher oder später mit dem neuen Partner am selben Punkt. Stattdessen möchte ich hier Mut machen, die Entwicklungschancen zu nutzen, die in der Paardynamik liegen. Die Liebesverletzungen und die Grenzen des eigenen Liebesvermögens werden erfahren und so offenbar. Und hierin liegt die spirituelle Herausforderung, eine tiefere Liebe zu entwickeln und einander tatsächlich noch durch die Liebe zu heilen.

Der erste Schritt dazu ist, einander nicht mehr zu benutzen, um die Grundschmerzen abzuwehren. Denn so funktionieren stillschweigend die meisten Beziehungen: Wenn Du es mir ersparst, dass ich meinem Leiden begegnen muss, dann liebe ich Dich. Insofern hatte die oben geschilderte Rollenverteilung zwischen Hans und Lene auch ihren stabilisierenden Nutzen für beide. Jeder konnte das weiterleben und anwenden, was er gelernt hatte, und sich dabei gebraucht fühlen. Das ist auf die Dauer keine Lösung. Dann wird die Paardynamik zu einem Hindernis für die spirituelle Entwicklung und das Leiden wiederholt. Die Lösung ist, sich diesen Grundschmerzen zuzuwenden. Liebevolles
Gewahrsein und Wahrhaftigkeit mit sich selbst sind erforderlich, um sie ins Bewusstsein zu holen. In einem zweiten Schritt können sich die Partner einander mitteilen und sich in gegenseitigem Verstehen und Mitfühlen üben. Das wird nur gelingen, wenn jeder Versuch, den anderen für die Ursachen oder die Lösung verantwortlich zu machen, unterbleibt und jeder ganz für sich selbst einsteht. In einem dritten Schritt könnte das Paar zu einem neuen Sinn und einem neuen Ziel des Zusammenlebens finden: Wie können wir unsere Verletzungen und Begrenzungen bewusst in die Liebe einbeziehen. Wie können wir - statt uns gegenseitig in lebensfeindliche Muster hineinzuzwingen – zusammenarbeiten, um uns daraus zu befreien.

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Autor/Autorin des Textes: 
Sita Vajramati

Das Ego heilen

Das Ego heilen

Wenn wir uns mit dem Ego beschäftigen, können zwiespältige Empfindungen aufkommen. Es stehen uns Personen vor Augen, die ein grosses Geltungsbedürfnis haben und im Mittelpunkt stehen müssen, die nur sich selbst sehen und blind für die anderen sind. Auf den zweiten Blick fallen uns vielleicht auch Menschen ein, die das Umgekehrte tun. Sie beanspruchen nichts für sich, sind immer nur für die anderen da, fühlen sich für alles zuständig und verantwortlich und entschuldigen sich ständig. Auch diese Menschen kreisen eigentlich um sich selbst, obwohl es ganz anders aussieht.

Wenn wir dann auf uns selbst schauen, stellen wir vielleicht mit Schrecken fest, dass wir auch Beachtung wünschen, etwas gelten und bedeuten wollen, und gar nicht so bescheiden sind, wie es unser spirituelles Entwicklungsideal verlangt. Das lassen wir sicher niemanden merken, sondern üben uns verstärkt im Loslassen unserer Ansprüche. Leider nützt das nichts, die abgewiesenen Bedürfnisse kommen bei der nächsten Gelegenheit wieder qualvoll zum Vorschein. Weil wir uns nicht so haben wollen, wie wir sind (Ablehnung, Hass), stattdessen spiritueller, fortgeschrittener, gelassener, weniger ichbezogen sein wollen (Begehren), leiden wir an uns selbst, an „unserem Ego“.

Den Knoten verstehen

Der ganze Sinn der buddhistischen Praxis ist, Leiden und die Identifikation mit dem Leiden zu beenden. Hierzu zeigt der Buddha den Weg. Er hielt seinem Schüler Ananda einen Schal vor Augen, in den er fünf Knoten geknüpft hatte, um ihm zu demonstrieren, dass man einen Knoten genau untersuchen muss, bevor man ihn aufkriegt. Man kann nicht einfach daran ziehen, man muss wissen, wie er geknüpft ist. Das „Ego“ ist ein solcher Knoten in unserem Geist und unserem gesamten psychophysischen Organismus.

Zunächst bedarf es der begrifflichen Eingrenzung. Nicht alles was ichbezogen ist, ist auch egoistisch. Das Ich ist von seiner Funktion her betrachtet ein notwendiges Bezugszentrum, das die Flut der Sinneserfahrungen bündelt, koordiniert und auswertet, damit wir als Individuum an dieser Welt teilnehmen und mit anderen Individuen in Beziehung treten können. Das „Ego“ ist etwas Anderes: es ist starr, zwanghaft, fühlt sich in unserem subjektiven Erleben wie ein Fremdkörper an und agiert auch gegen unseren Willen.

Um das zu verstehen, ist es nötig, Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie heranzuziehen. Ein Kleinkind hat noch kein „Ego“. Es erlebt sich und die Welt noch als undifferenzierte Ganzheit. Es kann weder sich selbst noch seine Mutter als Individuum erkennen. Der Körper ist zwar schon ausgebildet aber die Psyche noch nicht. Das ist erst mit drei Jahren der Fall, solange braucht es, bis auch die psychische Geburt des Menschen vollendet ist. In dieser Zeit ist das neue Wesen extrem abhängig, äusserst verletzlich und absolut auf seine Eltern angewiesen. Gerade deshalb müssen seine Bedürfnisse Vorrang haben. Es scheint als habe der Säugling alle Macht über das Leben seiner Eltern, aber zugleich hat er auch alle Ohnmacht, weil er sich allein nicht helfen kann.

Frühkindlicher Narzissmus

Dieses Entwicklungsstadium des Menschen wird daher „primärer Narzissmus“ genannt. Dieser Narzissmus hat nichts mit dem zu tun, was wir landläufig unter dem Narzissmus von Erwachsenen verstehen: eine eitle Selbstverliebtheit. Die ersten drei Monate werden nur deshalb „primärer Narzissmus“ genannt, weil sich alles um den bedürftigen Säugling dreht und drehen muss, sonst bliebe er nicht am Leben. Die Erfüllung dieses Narzissmus ist die Grundlage gesunden Wachstums und die Basis für die spätere Entwicklung von Selbstliebe, Selbstachtung und Urvertrauen.

Wenn alles gut geht, sind die Eltern in der Lage, auf die absolute Bedürftigkeit des Kindes liebevoll und angemessen einzugehen und auf eigene andere Interessen zu verzichten. Wenn nicht, erlebt das Kind lebensbedrohlichen Stress. Das beeinflusst die ganze weitere Persönlichkeitsbildung. Warum? In dieser frühen Phase wird das Selbstempfinden geprägt, das heisst, die Art und Weise wie man sich selbst erfährt und subjektiv empfindet. Es wird auch gleichzeitig das Verhältnis zum Leben und zum Dasein geprägt, denn Subjekt und Objekt, Selbst und Welt sind noch ungeschieden.

Es werden die Samen gelegt für das körperliche und für das emotionale Selbstempfinden. Das werdende Wesen kann noch nicht sagen, das bin ich und das bin ich nicht. Die psychische, innere Welt mit der Möglichkeit, sich zu distanzieren und Erfahrungen zu verarbeiten ist noch nicht vorhanden. Sie bildet sich ja erst und so ist das Kind auf Gedeih und Verderb seinen Eltern ausgeliefert. Wenn sie seine Bedürfnisse nach Nahrung, Aufmerksamkeit, Gehaltensein, Trost und Anregung liebevoll erfüllen können, wenn sie seine Lebensäusserungen spiegeln und beantworten, dann bildet sich ein positives Selbstempfinden. Wenn nicht, geschieht das Gegenteil. Eine unangemessene, vernachlässigende, falsche oder überfordernde Liebe verursacht Schmerzen, die im noch undifferenzierten Organismus als überwältigend erlebt werden. Daraus resultiert ein fragiles, unsicheres, bedrohtes negatives Selbstempfinden. Leben und Daseinmüssen werden zur Qual.

Grundschmerzen

Die frühen Verletzungen werden als Grundschmerzen dem Organismus eingeprägt, mit ihnen müssen wir uns ein Leben lang auseinandersetzen. Alle Menschen haben mehr oder weniger solche Grundschmerzen. Weil unsere Eltern keine allwissenden Buddhas waren, sondern auch ihrerseits durch Verletzungen und Unwissenheit in ihrer Liebesfähigkeit eingeschränkt waren. Buddha formuliert das in seiner ersten edlen Wahrheit: die Wahrheit vom Leiden. Aber auch wenn die Grundschmerzen einerseits zur karmischen Bedingtheit des Menschseins „Geburt ist Leiden...“ dazu gehören, gibt es andererseits doch grosse Unterschiede in ihrem Ausmass und den psychischen Möglichkeiten, ihnen zu begegnen.

Wie geht es dann weiter? Wie ist es möglich, dass wir trotz existentieller Bedrohtheit am Anfang unseres Lebens halbwegs fröhliche Menschen werden? Fassen wir noch einmal zusammen: Am Anfang erlebt das werdende Wesen existentiellen Stress und ist seinen Spannungszuständen hilflos ausgeliefert. Wenn seine Eltern sie schnell und wirksam lindern können, fühlt sich das Kind genährt, gehalten, getröstet und bestätigt. Wenn nicht macht es die Erfahrung, ihrer Liebe nicht wert zu sein. In diesem ganz frühen undifferenzierten Stadium heisst das, vernichtet zu werden. Die meisten Menschen haben beides erfahren und beide
Erlebnisweisen gespeichert – in unterschiedlicher Gewichtung.

Die Kunst zu Überleben

Mit den nächsten Reifungsschritten lernt der werdende Mensch, zwischen sich und anderen zu unterscheiden. Er lernt Ja sagen und Nein sagen. Damit entsteht die Möglichkeit, einen Teil des eigenen Erlebens von sich abzutrennen und einen Graben zwischen sich und lebensbedrohlichen Vernichtungsgefühlen zu ziehen. Gleichzeitig wächst der Handlungsspielraum. Das Kind kann etwas tun, um sich die Liebe seiner Eltern durch besondere Anstrengungen vielleicht doch noch zu verdienen. Beide Massnahmen, Abspaltung und kompensatorisches Bemühen, beweisen die Überlebensfähigkeit des Kindes und sind in dem Sinne gesund - wenn auch mit schädigenden Folgen. Denn im weiteren Verlauf der individuellen Entwicklung identifiziert sich das Kind nun mit seinen Überlebensstrategien und verliert den Zugang zu seinen wahren Gefühlen. So entsteht das Ego. Wir können es nun verstehen als einen misslungenen Selbstheilungsversuch mit dem Ziel, einen unerträglichen Mangel an wahrnehmender, wertschätzender, liebevoller Beachtung zu überwinden. Das Ego ist wie eine Kapsel um eine offene Wunde, die darin aber nicht heilen kann, weil die Luft nicht dran kommt.

Warum muss dieser Selbstheilungsversuch misslingen?

Weil das Ego ein Notmechanismus ist, hat es zwanghaften Charakter und verhindert dadurch, dass heilende, wirkliche Bezogenheit erfahren werden kann. Ständig nur um sich selbst kreisend, fügt es anderen zu, was ihm selbst zugefügt wurde und setzt dadurch das Leiden fort.

Die abgespaltenen Vernichtungs- und Wertlosigkeitsgefühle werden aus der emotionalen Reifung ausgeschlossen und bleiben auf frühkindlichem Entwicklungsniveau stehen. Es braucht viel Energie, um sie in Schach zu halten und doch gelingt das nicht ganz, denn wenn die Überlebensstrategien versagen, dringen die Gefühle doch schmerzhaft ins Bewusstsein und dann in archaischer Form.

Das Ego kann nicht wachsen. Anstatt mit seinem lebendigen organisch wachsenden schöpferischen Dasein, identifiziert sich der Menschen mit einer Anzahl kompensatorischer Ersatzmechanismen, die nur auf das psychische Überleben ausgerichtet sind.

Wie kann das Ego geheilt werden?

Dem Ego einfach geben, was es an Bestätigung, Bewunderung oder Unterstützung verlangt, heilt nicht. Warum? Weil die abgespaltenen Grundgefühle unberührt bleiben. Es ist dann wie bei einem Fass ohne Boden. Wenn wir aber zutiefst verstehen, was das Ego ist, haben wir schon den ersten Schritt zur Heilung getan. Dann können wir den Knoten lösen. Es liegt an uns, dieses Wissen zur Anwendung zu bringen.

Was ist zu tun? Statt zu erwarten, dass unsere Defizite von aussen gefüllt werden, können wir uns entschlossen selbst darum kümmern. Wir können uns selbst das liebevolle Wahrnehmen unseres Daseins und Soseins zukommen lassen, das wir vielleicht vermisst haben. Wir können unsere Bedürfnisse ernst nehmen und uns um ihre Erfüllung bemühen. Wir können unserem Leben Wert, Sinn und Bedeutung verleihen. Das ist etwas anderes, als qualvoll um sich selbst zu kreisen. Buddha lehrt uns dazu die Praxis der Meditation. Richtig verstanden und ausgeführt, hilft sie nach und nach alle Schichten unseres Erlebens mit Bewusstsein zu durchdringen. Dadurch kann man sich selbst vollständig transparent werden und wird notgedrungen auf alle Hindernisse stossen, die den Fluss des Lebens blockieren.

Es ist gefährlich, ohne kundige Anleitung zu meditieren, allzu leicht wird spirituelle Übung zu einer weiteren Überlebensstrategie und die Grundschmerzen bleiben davon unberührt. Dann fühlt man sich vielleicht wertvoll und bedeutend, weil man praktiziert, einer Schule angehört oder einem bestimmten Lehrer folgt, aber wahrer Wert ist das noch nicht. Es ist wieder dasselbe, weil man sich besonders anstrengt, hat man sich etwas verdient.

Am Anfang des Weges geht es gar nicht anders, wir haben ja nur das Ego, sind aber geleitet von unserer Sehnsucht nach wahrer Liebe, wahrem Sinn und wahrer Wirklichkeit. Durch Meditation kommen wir dieser Dimension näher und können beglückende neue Daseins-Erfahrungen machen. Hier tut sich die nächste Falle auf, man könnte es dabei bewenden lassen und Meditation als zeitweise Erholung vom Ego missverstehen. Ohne kundige Begleitung kommt man über diese Schwelle nicht hinweg. Warum nicht? Das Ego ist als psychischer Selbstschutz vor unerträglichen existentiellen Schmerzen organisiert, diesen Schutz können wir nicht einfach loslassen, ohne etwas anderes zu haben. Hierin liegt die eigentliche Bedeutung des spirituellen Freundes/der Freundin und des Sangha. In manchen Fällen ist eine psychotherapeutische Begleitung unabdingbar. Erst im Schutz einer verfügbaren nicht egozentrierten Liebe können wir die Begegnung mit dem eigenen Leiden wagen. Zu Zeiten des Buddha gab es in ihm eine solche Persönlichkeit, heute können wir uns an ihn erinnern und zu seiner Lehre Zuflucht nehmen. Dennoch brauchen auch wir Heutigen die lebendige Erfahrung einer heilenden und haltenden Beziehung, in der wir unsere Grundschmerzen zulassen und uns neu der Liebe wert erfahren können.

Bleibt zu fragen: ist eigentlich das Ego und das, was Buddha mit Ich-Illusion und Ich-Wahn bezeichnete, dasselbe? Den Schriften zufolge ist mit den beiden Begriffen etwas ganz Grundsätzliches gemeint: Die irrige Annahme, dass wir als einzelne Menschenwesen getrennt von allem anderen existieren; dass wir uns mit unserem jeweiligen Zustand identifizieren und glauben, er sei unveränderbar; dass wir uns als eine fixe Gegebenheit empfinden. Das alles entspricht nicht der wahren Wirklichkeit und wird deshalb als wahnhaft bezeichnet. Wir machen uns Illusionen über uns und die Welt, das meint „Ich-Illusion“. Objektiv betrachtet, gibt es uns weder als getrennt noch als unwandelbar, da wir es aber trotzdem so erleben, bestimmt es unsere subjektive Wirklichkeit. Das Ego ist die psychische Struktur, die dieser Erlebnisweise zugrunde liegt.

© Ute Volmerg, alle Rechte vorbehalten

Autor/Autorin des Textes: 
Sita Vajramati
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