Krankheit als Pfad

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1. Die gesellschaftsstrukturellen Vorbedingungen
Krankheit spiegelt uns die Tatsache wieder, dass wir aus dem Gleichgewicht geraten sind. Darauf reagieren wir mit Gedanken, Worten und Taten. In unserer westlichen Welt gibt es dafür bestimmte Schemata, die wir verinnerlicht haben. Oberste Priorität hat die rasche Wiederherstellung der Funktionalität im Dienste ununterbrochener Verfügbarkeit und Beherrschbarkeit (unserer Körper sowie der Natur). Dafür gibt es das Gesundheitssystem und die Pharmaindustrie. Dies alles beinhaltet - bewusst oder unbewusst - eine ablehnende Haltung gegenüber Krankheit. Damit sind wir dem kranken Menschen, uns selber gegenüber, negativ eingestellt. Auch wir möchten möglichst schnell wieder über uns verfügen. So können wir nicht auf dem Pfad bleiben.

Um bei Krankheit auf dem Pfad bleiben zu können, darf man sich mit Krankheit weder identifizieren, noch sie ablehnen, vielmehr gilt es, sie als Gelegenheit wahrzunehmen, die spirituelle Übungspraxis zu intensivieren. In den Schriften heisst es:
- durch Krankheit werden Schleier gereinigt,
- Qualitäten werden hervorgebracht und
- deine Erkenntnis wird vertieft.

2. Der erste Schritt muss also sein, die vorhandene Haltung gegenüber meiner Krankheit ehrlich zu überprüfen: Wie geht es mir mit meinem Kranksein? Bin ich genervt, gestresst, ablehnend meiner Krankheit gegenüber? Will ich sie möglichst schnell weg haben? Bin ich verzweifelt, ohnmächtig, wütend, dass nichts hilft, oder dass ich schon wieder krank bin? Was ist meine geistige Haltung, was denke ich darüber? Wen oder was mache ich verantwortlich? Was sind meine Theorien und Konstruktionen, um mir die Krankheit zu erklären. Wie handele ich gegenüber meiner Krankheit: Bekämpfe ich die Symptome? Richte ich mich vorwiegend nach aussen und renne von einem Arzt, von einem Behandlungstermin zum anderen? Versuche ich die Krankheit zu ignorieren oder zu verleugnen und mache einfach weiter wie bisher? Quäle ich mich mit Fragen, warum trifft es mich? Oder mit Schuldzuschreibungen, was habe ich falsch gemacht? Leide ich tapfer und still vor mich hin? Oder ergreife ich energisch Gegenmassnahmen?

All dies gilt es nur ehrlich festzustellen, auch damit sind wir auf dem Pfad. Wir üben das Gewahrsein unserer Gefühle, Gedanken und Handlungsmuster, nicht um uns zu kritisieren, sondern um unser Gefangensein aufzulösen. Wie geht das? Dazu brauchen wir die buddhistische Sicht.

3. Die buddhistische Sicht
Es gibt nichts, das separat für sich alleine existieren würde, weder Gesundheit noch Krankheit. Gesundheit können wir nicht besitzen, Krankheit aber auch nicht. Deshalb ist Krankheit weder ein Persönlichkeitsmerkmal, noch ist sie ein blinder Zufall oder Schicksalsschlag, der mich wie aus heiterem Himmel getroffen hat, obwohl vorher alles in Ordnung war. Alles Entstandene ist aus bereits vorhandenen Bedingungen entstanden. Diese „meine Krankheit“(körperliches, psychisches, mentales Kranksein und Leiden) hat sich tatsächlich aus früheren Bedingungen heraus entwickelt und tritt jetzt unabweisbar zu tage. Alles Entstandene ist aber auch dem Vergehen unterworfen. So wie meine Gesundheit vergangen ist, so wird auch meine Krankheit vergehen. Sie vergeht, wenn die verursachenden Bedingungen aufgehoben werden, deshalb nützt alle Symptombekämpfung nur vorübergehend.

Das Leben – und auch mein individuelles Leben - hat die Fähigkeit, sich an seine Umwelt anzupassen, zu wachsen, sich zu regenerieren und im Gleichgewicht zu bleiben. Um sich zu regenerieren braucht das Leben Geburt und Tod und auch Krankheit. z.B. Fieber, Kinderkrankheiten u. a. Es gibt Krankheiten, die situativ bedingt sind und so auch wieder vergehen z. B. eine Lebensmittelvergiftung. Und es gibt Krankheiten, die karmisch bedingt sind. Alle Krankheiten haben Ursachen aber eine Grippe ist etwas anderes als eine Autoimmunkrankheit. Wir können mit allen Krankheiten üben, weil wir im unerleuchteten Zustand am Leiden, das die Krankheit verursacht, haften. Dieses geistige Haften verhindert oder erschwert die Heilung. In der Übung gilt es, das Haften zu erkennen und zu überwinden.

Karmisch bedingt heisst, dass die Krankheit durch menschliches Fehlverhalten gegenüber dem Leben verursacht wurde. Wenn wir in verblendeter Selbstüberschätzung die nötigen Schutzmassnahmen für das Leben versäumen, ist eine Grippe oder ein Unfall auch karmisch bedingt. Buddha hat die Wurzel dieses Fehlverhaltens in unserer Verblendung gefunden. Wir sind verblendet durch den Glauben an unser Ego, dessen Interessen wir glauben dienen zu müssen Deshalb sehen wir nicht, was das Leben braucht, was wir selbst und die anderen wirklich brauchen, um gesund zu bleiben. Auf die Erhaltung unseres Egos fixiert, können wir die Kostbarkeit des Lebens nicht erkennen. So fügen wir - in bewusster oder unbewusster Absicht - uns selbst und anderen Verletzungen zu. Das ist in der Vergangenheit geschehen durch uns selbst, durch unsere Eltern und unsere Vorgänger und deshalb erleben wir zwangsläufig heute die Folgen in Form von Krankheit. Manchmal liegen die ursächlichen Verletzungen so weit zurück, dass man sie nicht mehr erkennen kann. Deshalb ist in der Übung Vertiefung nötig.

Diese Betrachtungen sind eine Vorraussetzung dafür, sich mit vollem Ernst auf die Übung einlassen zu können. Sonst wirkt sie nicht. Dadurch übernehmen wir Verantwortung für das Leben und tun einen ersten Schritt, um unser jetziges Haften an den Konzepten unseres Egos aufzulösen. In der Regel ist das die Identifikation mit dem leidenden Opfer. Diese aufzugeben, und sich statt dessen - ohne die Spaltung in Täter und Opfer und ohne die Konzepte von Schuld, Sühne, Sünde und Strafe - auf die Suche nach Wahrheit zu begeben, ist nicht leicht. Sie führt uns zu einer nächsten Konfrontation: Wozu bin ich überhaupt unterwegs? Was ist Sinn und Ziel meines Lebens? Wofür will ich die mir verbleibende Kraft und Zeit einsetzen? Wenn man schwer erkrankt ist und sich für Therapien entscheiden muss (z.B. Operationen, Chemotherapie), sind diese Fragen sowieso unausweichlich.

Mit diesen Vorüberlegungen können wir verstehen, wenn es in den Schriften heisst, man soll Krankheit nicht ablehnen, sondern darin eine willkommene Gelegenheit sehen, altes negatives Karma zu beenden. Karma ist beendet, wenn wir unser verletzendes krankmachendes Denken, Fühlen und Verhalten beenden können und insofern keine neuen Ursachen für Leiden erschaffen. Das ist sehr schwer und erfordert grosses Mitgefühl, tiefes Schauen, Vertrauen und Hingabe. Das trainieren wir, wenn wir Krankheit zum Pfad machen.

4. Vertrauen und Hingabe haben wir noch nicht, weil wir noch keine positiven Erfahrungen mit der Übung gemacht haben. Da bleibt uns nichts anderes übrig, als auf alle die zu vertrauen, die vor uns diesen Weg gegangen sind. Buddhistisch Praktizierende nehmen Bezug auf Buddha, die grossen spirituellen Meister, ihre Lehrer in der Gegenwart, grosse Wesen, die uns ein Beispiel geben (z.B. Dalai Lama). Praktizierende anderer Religionen beziehen sich auf menschliche Wesen ihrer Traditionen. Alle können wir uns auf universelle Kräfte beziehen, deren Präsenz wir sicher schon einmal im Leben gespürt haben und die uns umgeben (Bodhisattvas, Schutzengel..)

5. Die nächsten Schritte
Wenn wir ernsthaft erkrankt sind, psychische oder körperliche Schmerzen haben, kreist unser Denken um diese Empfindungen, wir fühlen uns hilflos und ausgeliefert. Dies ist der fruchtbare Moment, in dem wir uns ganz bewusst zur Übung entschliessen. Wir begeben uns mit genügend Zeit an einen geschützten Ort, wo wir nicht gestört werden.
Wir ziehen unsere Aufmerksamkeit von den Symptomen ab und denken intensiv an Menschen, LehrerInnen und Vorbilder. Das heisst, wir nehmen geistig Kontakt zu hilfreichen Kräften auf, deren Wirken wir schon erfahren haben und die uns mit Vertrauen erfüllen. Wir rufen unseren inneren Heiler/Weisheitsgeist an.

Wir bitten all diese Kräfte um Segen und Unterstützung für unsere Praxis.
Traditionell heisst die Formel:
Gebt Euren Segen, dass diese Krankheit ein Teil meines Weges wird
Gebt Euren Segen, dass ich sie weder leugne noch bestätige
Gebt Euren Segen, dass ich sie als Helfer erlebe

Diese Bitte gilt es mit Inbrunst und Hingabe zu spüren, zu sprechen und zu wiederholen, das öffnet das Herz. Damit verankern wir unseren leidfixierten Geist in heilsamer Bezogenheit und spiritueller Geborgenheit, um im Leid, das wir uns im nächsten Praxisschritt anschauen, nicht unter zu gehen.

Normalerweise denken wir an unsere eigene Heilung, wir analysieren die Ursachen unserer Krankheit und gehen zum Arzt oder zur Therapie, um für uns selbst Heilung zu finden. Damit bleiben wir in der Enge unserer Selbstbezogenheit gefangen, das blockiert die tiefere Heilung. Statt dessen machen wir uns klar, dass es unzählige Wesen gibt, die an derselben oder einer ähnlichen Krankheit leiden wie wir. Das stellen wir uns richtig vor. Nicht um unser Leiden zu relativieren, sondern, um unser Herz zu weiten. Dadurch entsteht grösseres Mitgefühl. Vielleicht fällt es uns schwer, überhaupt für uns selbst Mitgefühl zu haben, aber wenn wir an unsere Mitwesen denken, denen es genauso wie uns geht, kann die Entfaltung grossen Mitgefühls in Gang kommen, indem wir ja dann auch aufgehoben sind. Wir kontemplieren also immer wieder den Gedanken

Wie bemitleidenswert sind alle Wesen, die von derselben Krankheit gequält werden wie ich.

Es geht nicht darum, sich deren Leid auch noch aufzuladen.Es geht auch nicht darum, das eigene Leid zu verleugnen und statt dessen das Leid anderer zu fühlen. Es geht darum, unser Herz zu öffnen für die Wahrheit des Leidens. Bei ernsthaftem Praktizieren werden wir erfahren, wie wir mit einer universellen Schwingung von umfassender Liebe und Barmherzigkeit in Kontakt kommen, die keine Emotion ist. Im Buddhismus wird sie Avalokiteshvara genannt. In diese eingebettet, lassen wir uns nun auf unsere eigene Krankheit ein, indem wir immer wieder folgendes Gebet wiederholen.

Mögen die unzähligen Lebewesen durch meine eigene Krankheit von ihren Krankheiten und Leiden erlöst werden.

Wie ist das zu verstehen? Christlich geprägt, wie wir sind, ist die Assoziation zu Christus, der für die anderen das Kreuz erleidet, naheliegend. Es geht aber um etwas anderes:
Das wichtigste bei diesem Schritt ist, dass ich meine Krankheit bzw. mein Krankheitserleben als Gabe hingebe und damit mein Haften loslasse. Wenn ich nur um meine Heilung ringe, komme ich automatisch ins Festhalten. Die Praxis des Gebens ist also ein geschicktes Mittel, um uns aus unserer eigenen Fixiertheit zu erlösen. Dadurch kommt die Lebensenergie als Heilungsenergie ins Fliessen. Dies ermöglicht, dass tiefere Dimensionen unseres Seins bewusst werden.

Wenn jetzt Schmerzen, Gefühle und Erinnerungen aufsteigen, greife ich nicht danach, ich bewerte nicht, analysiere nicht, lehne sie nicht ab, sondern lasse sie durch mich hindurchfliessen und gebe sie als Gabe hin in den offenen universellen Raum. Am besten macht man diese Übung im Liegen, um tief entspannen zu können. Ich lasse zu, dass sich die Schmerzen ausdrücken, im Wissen und Vertrauen, dass ich so dem Leben und dem Wohl aller Wesen am besten diene. Denn wenn ich sie festhalte, sie bekämpfe oder unterdrücke schade ich dem Leben und verhindere seine Erneuerung. Vielleicht fällt mir jetzt auf, dass ich das lange getan habe und so das Leiden fortgesetzt habe, das mir andere in der Vergangenheit zugefügt haben.

So kann ein emotionaler, geistiger und körperlicher Reinigungsprozess in Gang kommen, in dessen Verlauf wir die Ursachen unseres Leidens zutiefst verstehen, erleben und loslassen. Wenn wir so praktizieren, geschieht eine geheimnisvolle Verwandlung. Eingebettet in umfassendes Mitgefühl erleben wir unseren Schmerz und werden davon im eigenen Herzen berührt, weil wir in der Haltung gebender Liebe bleiben, können wir ihn zulassen und loslassen und unsere Hingabe mit allen anderen leidenden Wesen teilen. So verwandelt sich Schmerzenergie in Liebesenergie. Wenn die Dynamik des Prozesses abgeklungen ist, gilt es, solange wie möglich in der Empfindung von Wahrheit, Klarheit und allumfassender Liebe zu verweilen.

Diese Praxis, mit allen Übungsschritten, ist so oft wie möglich auszuführen. Die Worte, die wir in den Gebeten sprechen, können sich dem inneren Erleben anpassen. Z.B. können wir die Art unseres Leidens konkret benennen. Es ist wichtig, dass wir sagen, was wir fühlen und dass wir fühlen, was wir sagen. Formalismus hilft nicht. Wir kehren aber immer wieder zu den einfachen traditionellen Formulierungen zurück, sie enthalten alles und haben die meiste Kraft. Keiner der Übungsschritte ist verzichtbar. Sie führen schrittweise in die Tiefe. Es offenbaren sich zunehmend die Ursachen und Bedingungen unseres eigenen Krankseins und wir verstehen gleichzeitig aber auch immer tiefer das Leiden unserer Mitwesen.
Im Anschluss an die Übung können wir darangehen, das Erkannte zu verwirklichen und zwar überall: in unseren alltäglichen Beziehungen, bei der Arbeit, oder im Krankenhaus. Der Wunsch, mögen die unzähligen Lebewesen durch meine eigene Krankheit von ihren Krankheiten erlöst werden, wird sich dann ganz konkret erfüllen und zwar dadurch, dass wir immer fähiger werden, auch anderen aus ihren Verstrickungen herauszuhelfen.
Übungsanleitung erprobt und ausgearbeitet nach der Anleitung in: Karmapa Wangtchug Dordje, Mahamudra – Der Ozean des wahren Sinnes, Münster 2009, S. 252

© Ute Volmerg, alle Rechte vorbehalten

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