Negativität

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Negativität
Was wir aus Missbrauch lernen können
von Sita Vajramati
Wer sich mit der eigenen Negativität auseinandersetzen will, braucht Mut. Denn eigentlich darf man das als spirituell Praktizierende nicht haben. Wenn doch, so hat man nicht erfolgreich oder nicht genug praktiziert und muss sich mehr anstrengen. Sicher wird man das aus Angst vor einer moralischen Verurteilung nicht veröffentlichen.

Ich selbst praktiziere seit über dreissig Jahren Meditation. Nach ungefähr der Hälfte der Zeit stiess ich in einem Handbuch für die Praxis der Mahamudra auf einen Satz, der mich wie ein Blitz traf. Da war zu lesen: bei der in der Meditation angestrebten Gedankenfreiheit handelt es sich zumeist um gedankenfreie Nichterkenntnis, hinter der sich Negativität verbirgt, ohne jeglichen spirituellen Wert.

Mit anderen Worten: Die Gedankenfreiheit in der Meditation kommt dadurch zustande, dass ich meine Wahrnehmung blockiere und infolgedessen nichts erkenne – eben auch nicht das Negative – was zu einer freudlosen, unlebendigen Leerheitserfahrung führt, die Viele für das Ziel der Meditation halten: eben jene gedankenfreie Nichterkenntnis ohne jeglichen spirituellen Wert.

Zwei Fragen ergeben sich daraus: warum haben wir das nötig? Und: Hat der Buddha das so gelehrt? Die erste Frage lässt sich einfach und klar beantworten: Wir haben es nötig, weil wir uns vor dem Negativen in uns und um uns herum schützen wollen. Wir haben Angst, es würde uns überwältigen, überfordern und hilflos machen. Es gibt einfach zuviel davon. In der Meditation suchen wir eine Insel der Ruhe, um uns von unserem Getriebensein zu erholen. Das gilt es festzustellen ohne jede Beurteilung.

Wenn in unserer Geistesruhe dann doch etwas Negatives auftaucht, was sich nicht unterdrücken lässt, zweifeln wir an uns: Jetzt praktiziere ich schon solange und immer noch...ich bin unfähig, ...ich mache es nicht richtig... ich brauche eine andere Methode, eine andere Schule, einen anderen Lehrer, eine andere Lehrerin. Wir verlieren die Freude am Weg und die Freude an uns selbst. Wir fühlen uns ständig bedroht. Wir suchen auf altbekannten Wegen nach Erleichterung, was die Selbstzweifel verstärkt.

Leiden durch die Identifikation mit dem Ideal

Dieses Leiden ist dadurch bedingt, dass wir uns mit dem Positiven identifiziert haben, um uns vor dem Negativen zu schützen. Wenn das nicht funktioniert, erleben wir eine Krise. Es ist sehr wichtig zu verstehen, wie unausweichlich die Dynamik ist: Wenn es mich vor meinem eigenen moralischen Urteil nur als positives Wesen geben darf, darf es mich als negatives Wesen nicht geben. Deshalb muss ich alles was mich daran erinnern könnte aus meinem Bewusstsein ausschliessen. Die Möglichkeit der Selbstidealisierung beruht auf Abspaltung und Verdrängung. Das eine ist nicht ohne das andere zu haben. Es ist als würde jemand einen Teil von sich amputieren, nur damit der andere makellos bleibt.

Die buddhistische Welt wird zur Zeit von zwei Missbrauchsfällen erschüttert. Hochgeehrte Persönlichkeiten, wie der Zen-Priester Genpo Döring und der buddhistische Meister Sogyal Rinpoche haben sich unethisch und verletzend verhalten. Ihnen wird Gewalt, Vorteilsnahme und sexueller Missbrauch nachgewiesen.

Wie ist das möglich? Ist doch das oberste buddhistische Gebot Leben nicht zu verletzen? Haben sie nicht richtig oder nicht genug praktiziert? Das darf doch einfach nicht wahr sein! Doch es ist wahr und es ist das Ergebnis eines Praktizierens, das sich selbst idealisiert und sich in Bezug auf das eigene Negative unbewusst macht. Dementsprechend sind die Beschuldigten völlig unfähig, sich mit dem Schaden den sie angerichtet haben, auseinanderzusetzen und die Verantwortung dafür zu übernehmen. Das erfährt man aus ihren Reaktionen. Die Ich-Identifikation mit dem spirituellen Ideal macht blind, taub und dumm. Buddha nannte das Verblendung.

Welche Konsequenzen ziehen wir daraus für uns? Können wir die Erschütterung nutzen, um unser eigenes Praktizieren zu überprüfen und was können wir daraus lernen?
Wenn klar ist, dass die Ich-Identifikation mit dem Idealen ins Leiden führt, weil wir mit dem Unidealen nicht umgehen können, müssen wir doch genau das lernen.

Der Buddha hat dazu klare Anweisungen gegeben, die auf einer vollständigen Durchdringung der Wurzelursachen des sogenannten „Negativen“ beruhen.
Jede Art von Ich-Konstruktion und Ich-Identifikation auch die mit dem „Guten“ – dem spirituellen Ideal - hat Negativität zur Grundlage: Sie macht sich das Gute zu eigen. Sie schliesst das Gegenteil aus, und macht sich unbewusst in Bezug auf die ganze Wahrheit. Diese drei Geistesgifte, Gier, Hass und Verblendung, hat der Buddha als die Wurzeln des Leidens beschrieben; in unserer Terminologie: Haben-wollen, nicht–haben-wollen und nicht-wissen-wollen. Die Ich-Behauptung auf der Basis eines jeglichen Konstrukts: nur das bin ich, und das bin ich nicht, beruht auf einem Akt der Aversion. Diese aversive Aktivität findet nicht nur einmal statt, sondern fortlaufend, solange wir den Glauben an unsere separate Ichheit, ob positiv oder negativ definiert, aufrechterhalten müssen.

Was ist Aversion – wie üben wir mit Aversion?

Aversion ist kein Gefühl sondern eine negative geistige Haltung. Sie schränkt unsere Bewusstseinfähigkeit ein und vergiftet unser Denken und Fühlen. Aversion ist mentaler Hass, er motiviert Aktivitäten des Abweisens, Ablehnens und Verfolgens. Mentaler Hass ist in der Regel unbewusst. Wir können ihn aber körperlich an Kopfschmerzen, Muskelverspannungen, Kälte, hohem Blutdruck und flacher Atmung spüren. Emotional fühlen wir uns genervt, ungeduldig und freudlos. Im Schweizerdeutsch gibt es den treffenden Ausdruck: hässig. Fühlen und Wahrnehmen sind eingeschränkt. Wir bewegen uns hektisch, sind vergesslich und unfallgefährdet. Wir sind in Gefahr uns selbst und andere zu verletzen. Unbewusst leiden wir. Wenn wir das bemerken, werden wir in der Regel ärgerlich. Wir suchen nach Erklärungen und nach Schuldigen. Der Ärger kann sich gegen uns selbst und gegen andere richten. Sein Ziel ist immer Beseitigung. Entweder das Problem, den anderen oder notfalls uns selbst. Unbewusst reagieren wir auf Aversion mit Aversion. Das kann sich bis zum Suizid steigern.
Um dieses Leiden zu beenden, braucht es die Entschlossenheit, sich aus dem Gefängnis seiner Ich-Anhaftung zu befreien. Der erste Schritt dazu ist, bereit zu sein, die Symptome überhaupt wahrzunehmen. Anders kann eine Übungspraxis nicht beginnen. Im Satipatthana Sutra lehrt der Buddha das Gewahrsein der Geistesgifte.

Nachdem wir die Symptome bemerkt haben hören wir auf, rationale Erklärungen dafür zu suchen. Stattdessen richten wir das Gewahrsein auf unseren energetischen Zustand. Wir erleben unsere Verkrampfung direkt ohne sie zu beurteilen und ohne nach ihrer Berechtigung zu fragen. Wir spüren hinein, wir durchdringen den aversiven Zustand mit Wahrnehmung. Wir schauen nicht von aussen, sondern wir begeben uns mitten in diese negative Empfindung hinein. Wir fragen uns, ob das liebevoll akzeptierend geschehen kann und versuchen es. Wir nehmen den Atem zu Hilfe, um die Empfindung zu energetisieren und beim Ausatmen zu entspannen. Dadurch kann die Lebensenergie wieder ins Fliessen kommen. Die Verkrampfung wird sich lösen. Die Weisheit des Herzens erhält eine Chance, zu uns zu sprechen.

Angst vor Gefühlen

Da Aversion ein Schutz ist, der uns vor vermeintlich Unerträglichem bewahren soll, haben wir vor seiner Auflösung Angst. Das gilt es nicht zu beurteilen, sondern ist ein Überlebensreflex, den wir ernst nehmen müssen. In der Tat fluten ohne die Barriere unserer Ich-Abtrennung alle Wahrnehmungen in unser Bewusstsein sowohl von Innen als auch von Aussen. Um das zulassen zu können müssen wir vorher wissen, wie wir damit umgehen können. Auch hier gibt das Satipatthana Sutra konkrete Anweisungen und Hilfen. Der Buddha lehrt uns Gefühlsgewahrsein.

Wenn wir das ernsthaft praktizieren wollen, wird sich sehr wahrscheinlich ein Widerstand einstellen. Wir alle haben bereits eine Geschichte mit Gefühlen. Sie ist davon geprägt, was wir in der Kindheit erlebt haben und wie unsere Eltern mit unseren Gefühlsäusserungen umgegangen sind. Wenn wir gelernt hätten alle Gefühle zu fühlen, könnten wir auf die Aversion verzichten. So ist es nicht. Abwehren müssen wir, weil wir uns bedroht fühlen, zum Beispiel von Angst, Wut, Ohnmacht oder Schmerz. Für manche Menschen ist aber auch Glück und Freude schwierig, wenn sie nicht ins Ich-Konstrukt passen.

Der Widerstand gegen das Gewahrwerden der Gefühle könnte sich etwa in folgenden Gedanken äussern. Wozu soll es gut sein, sich auf Gefühle einzulassen? Dadurch wird es nur schwieriger; Hilfe und Verständnis gibt es sowieso nicht. Ich werde sicher abgelehnt.
Damit kann man mich ja nicht gern haben. Und zum Schluss muss ich mich sowieso anpassen.

Die Abwehr überwinden

Wie können wir diese Abwehr überwinden? Wir müssen vom Sinn des Fühlens überzeugt sein. Wir brauchen liebevolle Wahrnehmung statt Ablehnung. Wir brauchen konkrete Unterstützung.

Was ist der Sinn des Fühlens? Gefühle sind Weisheitsenergie, sie sind unsere spontane emotionale Antwort auf das Leben. Die Möglichkeit zu fühlen ist angeboren und gehört zur menschlichen Grundausstattung. Gefühle orientieren uns im Dienst des Überlebens.
Freude, Angst, Trauer, Wut, Ekel und Scham sind Affekte, die schon in frühester Kindheit spontan auftreten. Sie wirklich als Gefühl zu fühlen und ins Bewusstsein zu nehmen muss allerdings erlernt werden. Dafür braucht der werdende Mensch die Unterstützung eines erwachsenen mitfühlenden Wesens, das die emotionale Energie aufnimmt, mit Sprache versieht und zurück spiegelt. Nur auf diese Weise verlieren die spontanen emotionalen Affekt für das Kind ihre Bedrohlichkeit und werden handhabbar.

Auch im erwachsenen Alter können die Affekte in besonders kritischen Situationen spontan ausgelöst werden. Sie behalten zeitlebens ihren archaischen Charakter. Im Alltagsleben bleiben sie normalerweise unterschwellig. Aber sie bewirken emotionale Wellen an der Oberfläche unseres Bewusstseins, die wir als angenehm oder unangenehm erfahren. Wir müssen also zwei Ebenen unterscheiden: Die Ebene der primären affektiven Reaktionen auf Ereignisse und die Ebene der sekundären emotionalen Bewertung unseres Erlebens. Eine Erfahrung kann sich für uns entweder angenehm oder unangenehm anfühlen. Die emotionale Bewertung ist noch nicht das Gefühl, sie ist ein Entscheidungskriterium dafür, ob wir es zulassen wollen oder nicht. Und das geschieht in der Regel unbewusst. Auf diese Art sortieren wir Gedanken, Wahrnehmungen und eben auch die primären Gefühle. Wir müssen uns also bewusst entscheiden die Filteraktivität unseres mentalen und emotionalen Bewusstseins zu lockern, wenn wir an die primären Gefühle herankommen wollen. Wie kann das gehen?

Anleitung zu Gefühlsgewahrsein

Im ersten Schritt müssen wir die Aversion wahrnehmen und entspannen, dann hilft die Frage weiter: Wie fühle ich mich mit mir selbst: angenehm oder unangenehm? Die Antwort muss erfahren und nicht erdacht werden. Auf diese Weise vermeiden wir die Rationalisierung. Dann werden tiefere Dimensionen des Fühlens zugänglich. Die primären Emotionen können erlebt und in ihrer Bedingtheit verstanden werden. Dabei geht es nicht um berechtigte oder unberechtigte Gründe sondern um das lebendige Erleben unseres gesamten emotionalen Zustands. Der Buddha hat in vielen Sutras die Frage eindeutig beantwortet, was mit Gefühlen geschehen muss. Ein angenehmes Gefühl muss als angenehm, ein schmerzliches Gefühl muss als schmerzlich gefühlt werden. Das sind keine sprachlichen Floskeln. Gefühle müssen als solche gefühlt werden und sich in unserem eigenen Bewusstsein ausdrücken dürfen, dann werden sie sich verändern. Weil wir mit uns selbst mitfühlen, wird sich unser Herz öffnen und die Weisheitsenergie wird ins Fliessen kommen. Sie wird uns mitteilen, was zu tun ist.

Gefühlsgewahrsein ist ein Schritt auf dem Weg der buddhistischen Geistesschulung, der Übung erfordert. Nach und nach können wir Bedrohliches integrieren, wir müssen es nicht länger zwanghaft nach aussen projizieren und durch Aversion in Schach halten.

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