Das Ego heilen

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Das Ego heilen

Wenn wir uns mit dem Ego beschäftigen, können zwiespältige Empfindungen aufkommen. Es stehen uns Personen vor Augen, die ein grosses Geltungsbedürfnis haben und im Mittelpunkt stehen müssen, die nur sich selbst sehen und blind für die anderen sind. Auf den zweiten Blick fallen uns vielleicht auch Menschen ein, die das Umgekehrte tun. Sie beanspruchen nichts für sich, sind immer nur für die anderen da, fühlen sich für alles zuständig und verantwortlich und entschuldigen sich ständig. Auch diese Menschen kreisen eigentlich um sich selbst, obwohl es ganz anders aussieht.

Wenn wir dann auf uns selbst schauen, stellen wir vielleicht mit Schrecken fest, dass wir auch Beachtung wünschen, etwas gelten und bedeuten wollen, und gar nicht so bescheiden sind, wie es unser spirituelles Entwicklungsideal verlangt. Das lassen wir sicher niemanden merken, sondern üben uns verstärkt im Loslassen unserer Ansprüche. Leider nützt das nichts, die abgewiesenen Bedürfnisse kommen bei der nächsten Gelegenheit wieder qualvoll zum Vorschein. Weil wir uns nicht so haben wollen, wie wir sind (Ablehnung, Hass), stattdessen spiritueller, fortgeschrittener, gelassener, weniger ichbezogen sein wollen (Begehren), leiden wir an uns selbst, an „unserem Ego“.

Den Knoten verstehen

Der ganze Sinn der buddhistischen Praxis ist, Leiden und die Identifikation mit dem Leiden zu beenden. Hierzu zeigt der Buddha den Weg. Er hielt seinem Schüler Ananda einen Schal vor Augen, in den er fünf Knoten geknüpft hatte, um ihm zu demonstrieren, dass man einen Knoten genau untersuchen muss, bevor man ihn aufkriegt. Man kann nicht einfach daran ziehen, man muss wissen, wie er geknüpft ist. Das „Ego“ ist ein solcher Knoten in unserem Geist und unserem gesamten psychophysischen Organismus.

Zunächst bedarf es der begrifflichen Eingrenzung. Nicht alles was ichbezogen ist, ist auch egoistisch. Das Ich ist von seiner Funktion her betrachtet ein notwendiges Bezugszentrum, das die Flut der Sinneserfahrungen bündelt, koordiniert und auswertet, damit wir als Individuum an dieser Welt teilnehmen und mit anderen Individuen in Beziehung treten können. Das „Ego“ ist etwas Anderes: es ist starr, zwanghaft, fühlt sich in unserem subjektiven Erleben wie ein Fremdkörper an und agiert auch gegen unseren Willen.

Um das zu verstehen, ist es nötig, Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie heranzuziehen. Ein Kleinkind hat noch kein „Ego“. Es erlebt sich und die Welt noch als undifferenzierte Ganzheit. Es kann weder sich selbst noch seine Mutter als Individuum erkennen. Der Körper ist zwar schon ausgebildet aber die Psyche noch nicht. Das ist erst mit drei Jahren der Fall, solange braucht es, bis auch die psychische Geburt des Menschen vollendet ist. In dieser Zeit ist das neue Wesen extrem abhängig, äusserst verletzlich und absolut auf seine Eltern angewiesen. Gerade deshalb müssen seine Bedürfnisse Vorrang haben. Es scheint als habe der Säugling alle Macht über das Leben seiner Eltern, aber zugleich hat er auch alle Ohnmacht, weil er sich allein nicht helfen kann.

Frühkindlicher Narzissmus

Dieses Entwicklungsstadium des Menschen wird daher „primärer Narzissmus“ genannt. Dieser Narzissmus hat nichts mit dem zu tun, was wir landläufig unter dem Narzissmus von Erwachsenen verstehen: eine eitle Selbstverliebtheit. Die ersten drei Monate werden nur deshalb „primärer Narzissmus“ genannt, weil sich alles um den bedürftigen Säugling dreht und drehen muss, sonst bliebe er nicht am Leben. Die Erfüllung dieses Narzissmus ist die Grundlage gesunden Wachstums und die Basis für die spätere Entwicklung von Selbstliebe, Selbstachtung und Urvertrauen.

Wenn alles gut geht, sind die Eltern in der Lage, auf die absolute Bedürftigkeit des Kindes liebevoll und angemessen einzugehen und auf eigene andere Interessen zu verzichten. Wenn nicht, erlebt das Kind lebensbedrohlichen Stress. Das beeinflusst die ganze weitere Persönlichkeitsbildung. Warum? In dieser frühen Phase wird das Selbstempfinden geprägt, das heisst, die Art und Weise wie man sich selbst erfährt und subjektiv empfindet. Es wird auch gleichzeitig das Verhältnis zum Leben und zum Dasein geprägt, denn Subjekt und Objekt, Selbst und Welt sind noch ungeschieden.

Es werden die Samen gelegt für das körperliche und für das emotionale Selbstempfinden. Das werdende Wesen kann noch nicht sagen, das bin ich und das bin ich nicht. Die psychische, innere Welt mit der Möglichkeit, sich zu distanzieren und Erfahrungen zu verarbeiten ist noch nicht vorhanden. Sie bildet sich ja erst und so ist das Kind auf Gedeih und Verderb seinen Eltern ausgeliefert. Wenn sie seine Bedürfnisse nach Nahrung, Aufmerksamkeit, Gehaltensein, Trost und Anregung liebevoll erfüllen können, wenn sie seine Lebensäusserungen spiegeln und beantworten, dann bildet sich ein positives Selbstempfinden. Wenn nicht, geschieht das Gegenteil. Eine unangemessene, vernachlässigende, falsche oder überfordernde Liebe verursacht Schmerzen, die im noch undifferenzierten Organismus als überwältigend erlebt werden. Daraus resultiert ein fragiles, unsicheres, bedrohtes negatives Selbstempfinden. Leben und Daseinmüssen werden zur Qual.

Grundschmerzen

Die frühen Verletzungen werden als Grundschmerzen dem Organismus eingeprägt, mit ihnen müssen wir uns ein Leben lang auseinandersetzen. Alle Menschen haben mehr oder weniger solche Grundschmerzen. Weil unsere Eltern keine allwissenden Buddhas waren, sondern auch ihrerseits durch Verletzungen und Unwissenheit in ihrer Liebesfähigkeit eingeschränkt waren. Buddha formuliert das in seiner ersten edlen Wahrheit: die Wahrheit vom Leiden. Aber auch wenn die Grundschmerzen einerseits zur karmischen Bedingtheit des Menschseins „Geburt ist Leiden...“ dazu gehören, gibt es andererseits doch grosse Unterschiede in ihrem Ausmass und den psychischen Möglichkeiten, ihnen zu begegnen.

Wie geht es dann weiter? Wie ist es möglich, dass wir trotz existentieller Bedrohtheit am Anfang unseres Lebens halbwegs fröhliche Menschen werden? Fassen wir noch einmal zusammen: Am Anfang erlebt das werdende Wesen existentiellen Stress und ist seinen Spannungszuständen hilflos ausgeliefert. Wenn seine Eltern sie schnell und wirksam lindern können, fühlt sich das Kind genährt, gehalten, getröstet und bestätigt. Wenn nicht macht es die Erfahrung, ihrer Liebe nicht wert zu sein. In diesem ganz frühen undifferenzierten Stadium heisst das, vernichtet zu werden. Die meisten Menschen haben beides erfahren und beide
Erlebnisweisen gespeichert – in unterschiedlicher Gewichtung.

Die Kunst zu Überleben

Mit den nächsten Reifungsschritten lernt der werdende Mensch, zwischen sich und anderen zu unterscheiden. Er lernt Ja sagen und Nein sagen. Damit entsteht die Möglichkeit, einen Teil des eigenen Erlebens von sich abzutrennen und einen Graben zwischen sich und lebensbedrohlichen Vernichtungsgefühlen zu ziehen. Gleichzeitig wächst der Handlungsspielraum. Das Kind kann etwas tun, um sich die Liebe seiner Eltern durch besondere Anstrengungen vielleicht doch noch zu verdienen. Beide Massnahmen, Abspaltung und kompensatorisches Bemühen, beweisen die Überlebensfähigkeit des Kindes und sind in dem Sinne gesund - wenn auch mit schädigenden Folgen. Denn im weiteren Verlauf der individuellen Entwicklung identifiziert sich das Kind nun mit seinen Überlebensstrategien und verliert den Zugang zu seinen wahren Gefühlen. So entsteht das Ego. Wir können es nun verstehen als einen misslungenen Selbstheilungsversuch mit dem Ziel, einen unerträglichen Mangel an wahrnehmender, wertschätzender, liebevoller Beachtung zu überwinden. Das Ego ist wie eine Kapsel um eine offene Wunde, die darin aber nicht heilen kann, weil die Luft nicht dran kommt.

Warum muss dieser Selbstheilungsversuch misslingen?

Weil das Ego ein Notmechanismus ist, hat es zwanghaften Charakter und verhindert dadurch, dass heilende, wirkliche Bezogenheit erfahren werden kann. Ständig nur um sich selbst kreisend, fügt es anderen zu, was ihm selbst zugefügt wurde und setzt dadurch das Leiden fort.

Die abgespaltenen Vernichtungs- und Wertlosigkeitsgefühle werden aus der emotionalen Reifung ausgeschlossen und bleiben auf frühkindlichem Entwicklungsniveau stehen. Es braucht viel Energie, um sie in Schach zu halten und doch gelingt das nicht ganz, denn wenn die Überlebensstrategien versagen, dringen die Gefühle doch schmerzhaft ins Bewusstsein und dann in archaischer Form.

Das Ego kann nicht wachsen. Anstatt mit seinem lebendigen organisch wachsenden schöpferischen Dasein, identifiziert sich der Menschen mit einer Anzahl kompensatorischer Ersatzmechanismen, die nur auf das psychische Überleben ausgerichtet sind.

Wie kann das Ego geheilt werden?

Dem Ego einfach geben, was es an Bestätigung, Bewunderung oder Unterstützung verlangt, heilt nicht. Warum? Weil die abgespaltenen Grundgefühle unberührt bleiben. Es ist dann wie bei einem Fass ohne Boden. Wenn wir aber zutiefst verstehen, was das Ego ist, haben wir schon den ersten Schritt zur Heilung getan. Dann können wir den Knoten lösen. Es liegt an uns, dieses Wissen zur Anwendung zu bringen.

Was ist zu tun? Statt zu erwarten, dass unsere Defizite von aussen gefüllt werden, können wir uns entschlossen selbst darum kümmern. Wir können uns selbst das liebevolle Wahrnehmen unseres Daseins und Soseins zukommen lassen, das wir vielleicht vermisst haben. Wir können unsere Bedürfnisse ernst nehmen und uns um ihre Erfüllung bemühen. Wir können unserem Leben Wert, Sinn und Bedeutung verleihen. Das ist etwas anderes, als qualvoll um sich selbst zu kreisen. Buddha lehrt uns dazu die Praxis der Meditation. Richtig verstanden und ausgeführt, hilft sie nach und nach alle Schichten unseres Erlebens mit Bewusstsein zu durchdringen. Dadurch kann man sich selbst vollständig transparent werden und wird notgedrungen auf alle Hindernisse stossen, die den Fluss des Lebens blockieren.

Es ist gefährlich, ohne kundige Anleitung zu meditieren, allzu leicht wird spirituelle Übung zu einer weiteren Überlebensstrategie und die Grundschmerzen bleiben davon unberührt. Dann fühlt man sich vielleicht wertvoll und bedeutend, weil man praktiziert, einer Schule angehört oder einem bestimmten Lehrer folgt, aber wahrer Wert ist das noch nicht. Es ist wieder dasselbe, weil man sich besonders anstrengt, hat man sich etwas verdient.

Am Anfang des Weges geht es gar nicht anders, wir haben ja nur das Ego, sind aber geleitet von unserer Sehnsucht nach wahrer Liebe, wahrem Sinn und wahrer Wirklichkeit. Durch Meditation kommen wir dieser Dimension näher und können beglückende neue Daseins-Erfahrungen machen. Hier tut sich die nächste Falle auf, man könnte es dabei bewenden lassen und Meditation als zeitweise Erholung vom Ego missverstehen. Ohne kundige Begleitung kommt man über diese Schwelle nicht hinweg. Warum nicht? Das Ego ist als psychischer Selbstschutz vor unerträglichen existentiellen Schmerzen organisiert, diesen Schutz können wir nicht einfach loslassen, ohne etwas anderes zu haben. Hierin liegt die eigentliche Bedeutung des spirituellen Freundes/der Freundin und des Sangha. In manchen Fällen ist eine psychotherapeutische Begleitung unabdingbar. Erst im Schutz einer verfügbaren nicht egozentrierten Liebe können wir die Begegnung mit dem eigenen Leiden wagen. Zu Zeiten des Buddha gab es in ihm eine solche Persönlichkeit, heute können wir uns an ihn erinnern und zu seiner Lehre Zuflucht nehmen. Dennoch brauchen auch wir Heutigen die lebendige Erfahrung einer heilenden und haltenden Beziehung, in der wir unsere Grundschmerzen zulassen und uns neu der Liebe wert erfahren können.

Bleibt zu fragen: ist eigentlich das Ego und das, was Buddha mit Ich-Illusion und Ich-Wahn bezeichnete, dasselbe? Den Schriften zufolge ist mit den beiden Begriffen etwas ganz Grundsätzliches gemeint: Die irrige Annahme, dass wir als einzelne Menschenwesen getrennt von allem anderen existieren; dass wir uns mit unserem jeweiligen Zustand identifizieren und glauben, er sei unveränderbar; dass wir uns als eine fixe Gegebenheit empfinden. Das alles entspricht nicht der wahren Wirklichkeit und wird deshalb als wahnhaft bezeichnet. Wir machen uns Illusionen über uns und die Welt, das meint „Ich-Illusion“. Objektiv betrachtet, gibt es uns weder als getrennt noch als unwandelbar, da wir es aber trotzdem so erleben, bestimmt es unsere subjektive Wirklichkeit. Das Ego ist die psychische Struktur, die dieser Erlebnisweise zugrunde liegt.

© Ute Volmerg, alle Rechte vorbehalten

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