Unterschiedliche Denkweisen in Ost und West

Druckversion

Vortrag gehalten anlässlich der Feier zum 120. Geburtstags Lama Govindas am 30.9.18 in Zalaszanto, Ungarn

Wenn Menschen, wie wir, die im westlichen Denken zuhause sind, Buddhismus studieren, werden sie zunächst ganz spontan auf ihre eigenen Denk- und Interpretationsschemata zurückgreifen, um sich zu erklären, was gemeint sein könnte. Das birgt die Gefahr von Irrtümern und Missverständnissen. Man meint buddhistische Begriffe zu verstehen, weil die Worte bekannt sind, aber sie bezeichnen etwas anderes. Sie stehen in einem kulturell und philosophisch ganz anders geprägten Bedeutungskontext, den wir im Westen nicht automatisch mitdenken können. Und so kommen wir auch gar nicht auf die Idee, dass es anders gemeint sein könnte als wir es verstehen. Umgekehrt - buddhistische Lehrer aus dem asiatischen Kulturkreis haben manchmal keine Ahnung davon, wie falsch wir etwas auffassen, von dem sie meinen, dass es doch sonnenklar sei. Auf diese Weise sind schon viele Irrwege beschritten worden.

Auf meinem Weg zur Buddhistin war das eine schmerzliche Begleitmusik und deshalb habe ich beide Systeme gründlich studiert um als Übersetzerin tätig sein zu können.
Heute bin ich Leiterin eines Meditationszentrums, buddhistische Lehrerin, Konfliktberaterin und Coach für Führungskräfte in freier Praxis in Schaffhausen, seit nunmehr über zwanzig Jahren.

Ein Gedankenexperiment

In meinem Vortrag möchte ich an einem Beispiel herausarbeiten wie unterschiedlich das Verstehen ist, je nachdem ob ich Begriffe im westlich-christlichen oder im östlich-buddhistischen System interpretiere.

Es ist mir ein Anliegen, dass Sie mit einer lebendigen Erfahrung nach Hause gehen, deshalb möchte ich Sie bitten sich auf eine Reihe von Gedankenexperimente einzulassen.

Ich lese ihnen jetzt eine Aussage des Dalai Lama vor, zunächst die erste Hälfte und bitte Sie den angefangenen Satz ganz spontan zu vollenden. Schreiben Sie auf, was Ihnen als Fortsetzung des Satzes einfällt. Im zweiten Schritt lese ich Ihnen vor wie der Dalai Lama den Satz fortsetzt.

„Wir können ohne die anderen nicht glücklich sein. Darum müssen wir...“

Bitte vervollständigen Sie den Satz nun mit ihren eigenen Worten und schreiben sie es für sich auf.

Nun lese ich den zweiten Teil des Satzes vor und bitte Sie, Ihre Schlussfolgerung mit der Empfehlung des Dalai Lamas zu vergleichen.

„Wir können ohne die anderen nicht glücklich sein. Darum müssen wir...“

„..unseren Geist darin üben zu erkennen, dass er nicht getrennt von anderen existiert.“

Ich hoffe Sie sind genauso verblüfft wie ich. Ich habe dieses Experiment im Selbstversuch auch gemacht, um meinen westlichen Denkmustern auf die Spur zu kommen. Wenn ich unbuddhistisch denke, dann schliesse ich aus der Erkenntnis, dass ich ohne die anderen nicht glücklich sein kann, dass ich mich um meine Beziehungen kümmern muss.

Die östlich- buddhistische Sichtweise, die aus der Aussage des Dalai Lamas spricht, verweist mich auf eine tiefere Wahrheit: Wir können ohne die anderen nicht glücklich sein, weil wir gar nicht getrennt von anderen existieren.

An diesem Beispiel lassen sich die Unterschiede zwischen dem westlich-christlichen und dem östlich-buddhistischen Denksystem gut veranschaulichen.

Im westlich-christlichen System
- geht die Bewegung nach aussen (instinktiv überprüfe ich mein Beziehungsnetz)
- sie ist objektivierend, (wo könnte ein Problem bestehen)
- und analytisch differenzierend (woran könnte es liegen)
- und aktiv Problem lösend (was sollte ich unternehmen)

Im östlich-buddhistischen System
- geht die Bewegung nach Innen (ich muss den Geist üben, zu erkennen )
- weg von der äusseren Tatsache (wir können ohne die anderen nicht glücklich sein)
- hin zu ihrem universellen Grund (wir existieren gar nicht getrennt)
- statt Problembeseitigung durch äussere Aktivität
- geht es um ein tieferes Erkennen
- und um geistige Übung,
- mit dem Zweck, das individuelle Erleben mit der universellen Wahrheit in Übereinstimmung zu bringen.

Daraus folgt mit Notwendigkeit: Ich muss meinen Geist darin üben, die Wahrheit zu erkennen, dass er gar nicht getrennt von anderen existiert.

Fünf Prämissen

Diese Belehrung des Dalai Lama enthält eine Reihe von buddhistischen Prämissen, die unserem westlichen Denken fremd sind.

Prämisse Nr. 1: Wir müssen unseren Geist üben zu erkennen.
Dahinter steht die Erkenntnis des Buddha, dass alles vom Geist ausgeht, primär von Innen bewirkt wird und nicht von Aussen: Unser Glück und unser Unglück. Diese Sichtweise ist für westliche Menschen ungewöhnlich. Wir denken nach dem Verursacherprinzip, isolieren Faktoren, um sie gezielt beeinflussen zu können. Soziale Ungleichheit, Ungerechtigkeit, Krankheit, Klimawandel, Marktprobleme, Flüchtlingskrise, Naturkatastrophen – alles soll von Innen bewirkt sein und vom Geist ausgehen? Das klingt nach „selber schuld“. Ist das nicht eine unzulässige Subjektivierung objektiv gegebener, strukturell verursachter Konflikte?

Das Missverständnis liegt an dem Wort Geist. Geist meint im Buddhismus nicht das was wir im Westen darunter verstehen: Denken, Intellekt. Geist ist die Bezeichnung für das unfassbare Medium all unserer Wahrnehmungen, Gefühle, Gedanken und Handlungen.
Locker ausgedrückt: Geist ist im Buddhismus nicht assoziiert mit: Denken, Kopf, Oben, Ideal, Himmel, Gott - sondern mit: Innen, Zentrum, Universalität, Verbundenheit, Ganzheit, Herz, mit unserem tiefsten Sein.

Unseren Geist üben, heisst dann nicht eine neue Theorie zu lernen sondern unser tiefstes Erleben zu verändern und zwar dadurch dass wir unseren Geist im Erkennen üben.
Und was soll er erkennen? nicht dieses oder jenes, oder die Schuldigen, oder eine soziale Theorie, sondern etwas ganz Offensichtliches eine universelle Tatsache. Er soll erkennen: dass er nicht getrennt von anderen existiert.

Prämisse Nr. 2: es gibt gar nichts getrennt Existierendes
Nach der buddhistischen Lehre gibt es überhaupt nichts, das getrennt für sich alleine existieren würde. Wir denken und fühlen uns zwar getrennt von anderen und versuchen auch so zu leben. Aber wenn man tiefer schaut, wird man zu einer anderen Erkenntnis kommen. Es ist gar nicht möglich getrennt von anderen zu existieren. Wir atmen alle dieselbe Luft, haben denselben Heimatplaneten und sind auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen. Die Globalisierung zeigt uns das immer deutlicher.
Wenn wir trotzdem versuchen, ohne die anderen glücklich zu sein, kann uns das nicht gelingen, weil die existentiellen Bedingungen das gar nicht zulassen. Wir sind von einander abhängig ob wir das wollen oder nicht. Das untersteht nicht unserem Willen. Die Wahrheit ist immer und überall dieselbe: Alles was existiert ist wechselseitig voneinander abhängig und auch nur durch gegenseitige Einwirkung entstanden.

Prämisse Nr. 3: Wir können nicht glücklich sein, weil wir die Wahrheit nicht erkennen
Umgekehrt: Wenn wir sie erkennen würden, könnte unser Leiden aufhören. Darum müssen wir unseren Geist im Erkennen der Wahrheit üben. Unser Unglück kommt also daher, dass unser Denken nicht mit dem übereinstimmt, wie es wirklich ist. Was ist wirklich? Was ist die Wahrheit? Im Westlichen Denksystem verstehen wir darunter entweder einen Gegenstand der Wissenschaft den man mit objektivierenden Methoden beweisen kann, oder etwas Höheres, für das die Religion zuständig ist, das man glauben muss.
Buddha hat sich konsequent sein ganzes Leben lang jeglicher metaphysischen Spekulation enthalten und das tut auch der Dalai Lama. Im Buddhismus wird unter Wahrheit etwas anderes verstanden. Wahrheit wird durch Vertiefung gefunden. Im Erleuchtungserlebnis wurde der Buddha allwissend. Nicht im Sinne enzyklopädischer Gelehrsamkeit sondern in bezug auf drei Aspekte die er das dreifache wahre Wissen nannte.

Das erste war die Wahrheit der Nichtdauer
Nichts dauert weder Subjekt noch Objekt, weder Geist, noch Seele, noch Materie – es gibt Kontinuität durch Wandel aber keine bleibende Substanz, die sich wandelt.

Das zweite war die Wahrheit abhängigen Entstehens
Es ist alles aufeinander bezogen, bedingt sich und verändert sich wechselseitig nach der Gesetzmässigkeit von Ursache und Wirkung

Das dritte war die Wahrheit von der Entstehung des Leidens durch das Nichterkennen der Wahren Wirklichkeit.

Unter Wahrheit werden im Buddhismus die fundamentalen Tatsachen des Lebens verstanden, die überall und zu allen Zeiten dieselben sind und die jedermann und jede Frau erkennen kann. Wahr ist, was universell gültig ist. Eine solche fundamentale wahre Wirklichkeit ist unsere gegenseitige Abhängigkeit, auf die der Dalai Lama verweist und diese Wahrheit gilt es zu erkennen. Was heisst erkennen?

Prämisse Nr. 4: Erkennen muss geübt werden.
Im Westen ist Erkennen gleichbedeutend mit begrifflichem Verstehen, es ist das Resultat einer intellektuellen Anstrengung. Der Ort der damit assoziiert wird ist das Gehirn. Im östlich-buddhistischen Verständnis ist Erkennen eine Sache des Herzens, der Introspektion und Intuition, unter Beteiligung aber nicht unter Vorherrschaft des Intellekts. Die Grenzen begrifflichen Denkens müssen überschritten werden. Erst das kann zu tiefem Erleben führen, das den ganzen Menschen ergreift und wandelt. Auch bei uns ist ja wechselseitige Abhängigkeit und globale Vernetzung längst erkannt, aber eben ohne dass sich der destruktive Umgang mit uns selbst und unseren Lebensgrundlagen verändert hätte. Buddhistisch gesehen liegt das daran, dass es nicht tief genug erkannt ist, wir wissen es nur begrifflich, nicht mit dem ganzen Sein, sonst könnten wir uns gar nicht mehr so destruktiv gegenüber dem Leben verhalten wie wir das tun.

Deshalb sagt der Dalai Lama: Diese Art des Erkennens muss geübt werden, auch von Buddhisten, von allen Menschen
- dann sind wir weder einsam und unglücklich noch
- können wir weiter unsere Lebensgrundlagen schädigen, weil wir mit unserem tiefsten Selbsterhaltungsinteresse als Einzelwesen und als Gattung Mensch verbunden sind.

Prämisse Nr. 5: Daher geschieht tiefgreifend wirksame Veränderung
durch geistige Übung
Auch das ist für westliche Denkgewohnheiten schwer akzeptable. Warum? Bei Veränderung denken wir an durchgreifende Lösungsstrategien auf der politischen Handlungsebene, die mit Macht durchgesetzt werden müssen. Geistige Übung braucht im Westen die Befreiung von der Welt. Dagegen: Politisches Handeln und geistige Übung sind im Buddhismus nicht als Gegensätze konzeptionalisiert. Das zeigt uns das umfassende Engagement des Dalai Lama. Mehr noch: Nach buddhistischer Überzeugung wird Handeln nur dann fruchtbar sein, wenn es durch geistige Übung mit der Weisheit des Lebens in Übereinstimmung gebracht ist.
Wenn westliche Menschen diese ganzheitliche Sichtweise nicht mitdenken, scheint ihnen der Buddhistische Zugang, mit geistiger Übung die Welt verändern zu wollen, unpolitisch idealistisch und beschränkt.

Zusammenfassung

Das westliche Deutungssystem beruht auf der Annahme einer Getrenntheit von Subjekt und Objekt, unsere Denkgewohnheiten folgen einer dualen Logik. Der Mensch steht der Schöpfung gegenüber, die er sich im Auftrag des christlichen Gottes untertan machen soll.
So sind wir seit 2000 Jahren christlich abendländisch geprägt, auch wenn wir an die Bibel nicht glauben. Das bedingt ein gespaltenes Verhältnis zu unserer Natur, das heisst sowohl zu unserem Körper als auch zu unseren natürlichen Lebensgrundlagen. Der sogenannte Geist hat seine ursprüngliche Verbindung mit dem Boden verloren. – Er schwebt über den Wassern und über der Erde - Materie ist sein Objekt, zu dem er in eine funktionale Beziehung tritt.

Im buddhistischen Deutungssystem wird Wirklichkeit ganz anders als ein Zusammenwirken von Kräften verstanden. Wirklichkeit gestaltet sich in jedem Moment neu, sie ist prinzipiell offen und unabgeschlossen. Strenggenommen gibt es überhaupt kein Sein – als etwas Statisches. Es gibt nur Werden. Wo nur dynamische Prozesses wirklich sind, kann es keinen Dualismus geben, sondern nur Bezogenheit in einem prinzipiell unabgeschlossenen Kontinuum. Alle Dinge sind in einem vorübergehenden Zustand. Es gibt Verschiedenheit:
Subjekt und Objekt, Geist und Materie, Leben und Tod sind nicht dasselbe aber in bezug auf ihre wahre grundlegende Existenzweise unterscheiden sie sich nicht: Sie sind alle nicht von Dauer und existieren nur in gegenseitiger Abhängigkeit.

Ich hoffe ich konnte Ihnen vermitteln, dass christlich-abendländisches und östlich-buddhistisches Denken sehr verschiedenen Logiken folgen. Das buddhistische System ist nondual und nicht theistisch. Das abendländische System ist dualistisch und theistisch. Das gilt es nicht zu bewerten, sondern im Bewusstsein zu halten. Wenn wir als Abendländer buddhistische Lehren hören ist es ganz normal, dass wir sie zunächst in unserem Denksystem auffassen. Wir verstehen sie als blosse Theorie und Ideologie, die man glauben kann oder nicht. Oder wir empfinden sie als eine moralische Anforderung, der wir folgen müssen, um ein guter Mensch zu sein – auf jeden Fall als etwas, das von aussen auf uns zu kommt. Für einen in Asien geborenen praktizierenden Buddhisten sind seine Anschauungen dagegen lebendige Erfahrung und westliche Sichtweisen blosse Theorie, bzw. unerleuchtetes Denken.

Schädliche Auswirkungen

Wenn wir Abendländer vom Buddhismus lernen wollen müssen wir also die Verschiedenheit der Deutungssysteme berücksichtigen. Wie schädlich sich das auswirkt, wenn wir das nicht tun, möchte ich zum Schluss an einem weiteren Beispiel verdeutlichen.

Es gibt eine viel zitierte Äusserung Shantidevas, eines indischen Gelehrten des 8. Jahrhunderts, die besagt:

Alles Glück kommt von der Sorge um das Wohl der anderen und alles Leid kommt von der Sorge um mein eigenes Wohl.

Christlich abendländisch verstanden hört sich das an wie eine Aufforderung zu noch mehr Spaltung, zu noch mehr Selbstverleugnung und Selbstverzicht.. Statt die Gleichheit aller Wesen zu assozieren, schliesst im westlich dualistischen Denken die Sorge um das eigene Wohl das der anderen aus. Um ein guter Mensch zu sein muss ich daher das eigene Wohl opfern. Die buddhistischen Worte berühren den Archetyp des heroischen Selbstopfers, das sich in moralischer Überhebung über das eigene Leiden und das Leiden der Welt in höheren Sphären ein Denkmal setzt. Das ist nicht Buddhas und auch nicht Shantidevas Lehre.

Im Westen wirkt sich dieses Missverständnis vor allem für solche Menschen schädlich aus, die im Recht auf ihr eigenes Wohl missachtet und misshandelt worden sind und die ihr Leiden dadurch kompensieren, dass sie sich für das Wohl anderer einsetzen. Sie helfen anderen anstatt sich selber zu helfen, spalten damit das eigene Leiden ab und finden ersatzweise Trost und Wert im Bemühen ein Ideal zu erfüllen. Der Buddhismus hilft dann zur ideologischen Begründung an der Spaltung zwischen dem eigenen Wohl und dem Wohl der anderen festzuhalten.

Gemeint ist es anders, der buddhistischen Weisheit Shantidevas liegt dieselbe nonduale Logik zugrunde wie der Äusserung des Dalai Lamas.
Ich kann ohne die anderen nicht glücklich sein, weil ich gar nicht getrennt von anderen existiere, wenn ich dann nur für mein eigenes Wohl sorge wird das Leiden bewirken.
Aber wenn ich nur für das Wohl der anderen sorge wird das auch Leiden bewirken.
Deshalb muss ich meinen Geist darin üben, diese Wahrheit zu erkennen.

Leider kennen buddhistische Lehrer aus dem östlichen Kulturraum unsere westlichen Prägungen zu wenig, um der Gefahr so missverstanden zu werden, begegnen zu können.

Ich würde mir sehr wünschen, dass buddhistische Lehrer und ihre Schüler die unterschiedlichen Voraussetzungen berücksichtigen würden, die für das Verständnis der Lehre des Buddha im Osten und im Westen gegeben sind.

Autor/Autorin des Textes: 
Diese Website verwendet Cookies, um Ihnen mehr Benutzerfreundlichkeit bieten zu können.
Mit der Nutzung unsere Website stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu.