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Die Philosophie des Cittamatra

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Die Philosophie des Cittamatra

Cittamatra ist eine philosophische Schule des Mahayanabuddhismus, in der erwiesen wird, dass es keine Dualität zwischen Subjekt und Objekt geben kann. Alles erscheint im Geist, über eine Welt unabhängig von subjektiver Erfahrung lassen sich keine gültigen Aussagen machen. Priti Ursula Weber arbeitet in ihrem Vortrag für die Prüfung im Systematischen Studium des Buddhismus die zentralen Positionen des Cittamatra heraus und lässt uns teilhaben an ihrem Praxisweg.

Mein Vortrag hat das Cittamatra zum Inhalt.
Das Cittamatra war einerseits eine buddhistische philosophische Schule, gegründet im 4. Jhdt. nach Chr. von Asanga und Vasubandhu.
Andrerseits repräsentiert es die 2. von 5 Entwicklungsstufen eines Individuums im Verstehen der Leerheit.

Cittamatra heisst übersetzt „Nur-Geist“. Die Philosophie der Cittamatralehre sagt aus, dass alles, was wir wahrnehmen, jedes Phänomen, auf der Grundlage unseres Bewusstseins entsteht und dass alle Objekte nur innerhalb unseres Bewusstseins existieren. Aus ihrer Sicht gibt es demnach keine Objekte, die getrennt vom Bewusstsein sind.
Die Cittamatrins waren hervorragende Meditierende. Ihre Überlegungen waren die Resultate ihrer Meditationserfahrungen. Sie begründen ihre Philosophie mit der Aussage des Buddha, dass die drei Welten oder die drei Bereiche ausschliesslich von der Natur des Geistes seien.

Die Bedeutung und Beherzigung dieser Sichtweise in unserem Leben und Alltag möchten wir nun ein wenig betrachten.

In der ersten Entwicklungsstufe im Verstehen der Leerheit, dem Shravaka-Stadium, das zum Hinayana gehört, geht es um das Aufhören des eigenen persönlichen Leidens. Es wird erkannt, dass die Daseinsgruppen, die Skandhas, leer von einem Selbst sind. Das Haften an einem „Selbst“, durch das die geistigen Störfaktoren hervorgerufen werden, die zum Leiden führen, wird beseitigt. Dies geschah vorwiegend durch das Leben der Mönche im Kloster. Sie zogen sich zurück, um sich nicht von der Welt verführen zu lassen. Sie kultivierten die Ich-Losigkeit. Sie beseitigten also die Behinderungen, durch die die negativen Störfaktoren und falschen Vorstellungen entstehen. Es ist dies der Weg zur Erleuchtung durch Weltentsagung.

Die Basis der Mahayanapraxis ist die Einsicht, dass wir die Welt kennen müssen, um von ihr nicht verführt zu werden. Die Mahayanis nehmen sich Buddha zum Vorbild. Sie wollen, so wie er es getan hat, den Kontakt mit der Welt, sie wollen mitten im Leben bleiben. Sie wollen die Welt durchschauen und erkennen, wie sie ist. Erst dann kann man sich nämlich vor Verstrickung mit ihr schützen.
Das Mahayana erkennt, dass wir uns nicht bewusst sind über die wahre Natur der Wirklichkeit. Durch diese Unbewusstheit wird die Fülle des Potentials, über die wir Menschen verfügen, nicht ausgeschöpft. Es bestehen sehr subtile Wissensschleier.
Im Mahayana erfolgt Befreiung durch Weisheit, indem man die Welt anders sieht. Durch das Erkennen, was die Welt wirklich ist, werden die letzten Wissensschleier beseitigt.
Wir Menschen besitzen die Fähigkeit, den Zustand des vollkommenen Erwachens zu erreichen und darüber hinaus als Bodhisattvas allen Wesen zur Befreiung zu verhelfen. Es gilt dabei, sich vom Haften an die Welt zu befreien und zum Wohl für die anderen dazusein. Erlösung geschieht durch Nicht-Anhaften und Weisheit. Dabei steht man mitten im Leben. Dieser Weg der Befreiung fordert stark heraus, da Geschicklichkeit im Umgang mit verschiedensten Lebensbedingungen gefragt ist.
Im Cittamatra ist die Betrachtung des Geistes zentral.
Wie können wir unseren Geist definieren?
Er hat keine materiellen Eigenschaften, er ist bewegt, schnell, umfassend, er ist nicht greifbar, doch er kann Dinge erfassen und erkennen. Wir glauben vielleicht, gar keinen Geist finden zu können. Wir erkennen jedoch in uns etwas Denkendes und Wahrnehmendes, wir haben Empfindungen mit grosser Wirkungskraft, die weit über diejenige von Materiellem hinausgeht.

Die Cittamatrins stellen sich den eigenen Geist als einen Strom von vorbeiziehenden, in Abhängigkeit entstehenden Gewahrseinsmomenten vor mit einem erfassenden und einem erfassten Aspekt. Der erfassende oder erkennende Aspekt ist das Subjekt, der erfasste oder erkannte ist das Objekt.

Der erkennende und erkannte Aspekt bedingen einander, d.h., es gibt kein Subjekt ohne ein Objekt, denn ohne Erkennenden gibt es kein Erkanntes, keinen Erlebenden ohne ein Erlebtes. Die Nur-Geist-Schule sagt, dass das wahrgenommene Objekt und das wahrnehmende Bewusstsein gleichzeitig entstehen und sich bedingen. Die Vorstellung von separaten, wahrhaft existierenden äusseren Objekten ist eine Erfindung des Geistes. Es gibt keine separate Wesenheit, die nicht mit irgend etwas verbunden ist, nehmen wir zum Beispiel Luft oder Schwingungen. Alles, was wir wahrnehmen, alle Phänomene sind Bewusstsein, sind Geist. Er ist leer in dem Sinn, dass er keine dauerhafte, separate und unabhängige Wesenheit besitzt.

Das heisst natürlich nicht, dass es keine Welt „da draussen“ gibt. Aber diese Welt ist nicht isoliert. Es ist immer ein Zusammenwirken von innen und aussen. Ein Aussen allein gibt es nicht. Wir könnten über eine Welt, die ausserhalb von uns existiert, gar keine Aussage machen, ohne dass wir dabei wären.

Im 1., im Shravaka-Stadium geht man noch von einer Welt „da draussen“ aus, die jenseits unserer Sinne ist.
Wir erfahren klar in der Meditation, dass wir unsere Wahrnehmung und Vorstellung nicht in einen innerlich erfassenden Geist und ein äusseres Objekt unterteilen, sondern dass wir Einheit und Verbundenheit erleben. Wir können jedoch sagen, dass sowohl die Spaltung in Subjekt und Objekt, als auch das Erleben von Einheit und Verbundenheit verschiedene Manifestationen ein und desselben Geistes sind.

Nun sind wir es ja gewohnt, dualistisch zu denken. Wir nehmen an, dass da draussen die Objekte sind und wir die Subjekte. Wir machen eine Trennung und fühlen uns dementsprechend getrennt. Die Verblendung besteht darin, dass wir die Dinge nicht im Zusammenhang sehen. Daraus entsteht Leiden.
Wir denken, wir sind nicht verbunden mit den Objekten, wir sind separate Wesen. Es gibt jedoch keine isolierten Objekte, es gibt nur ein Zusammenspiel von einem wahrnehmenden und einem wahrgenommenen Aspekt, die verbunden sind und die sich beidseitig und gleichzeitig erleben. Die Spaltung von Subjekt und Objekt ist eine grundlegende Verblendung und Unwissenheit. Dies ist die Essenz der Erkenntnis der Cittamatraschule.

Mit einer weisen Betrachtung erkennen wir, dass wir alle in unserer eigenen Vorstellungswelt leben. Durch sie kreieren wir unsere Wirklichkeit, und wir halten sie für gültig und wahrhaftig. Jeder von uns lebt nach seinem Drehbuch wie in einem Film.
Diese Vorstellungswelt ist Geist. Unser Geist ist bei jeder Art von Wahrnehmung beteiligt.
Das Auftreten eines innerlich erfassenden und äusserlich erfassten Aspektes lässt uns glauben, dass Geist und Materie von unterschiedlicher Substanz sind. Die Art und Weise, wie wir Materie wahrnehmen, ist jedoch ein Konzept. Wir konstruieren sie aufgrund einer Vorstellung unserer Sinne und begreifen sie mit Wörtern. Auch die Materie ist vom Geist geschaffen und absolut gesehen ohne Substanz. Unser konventioneller Geist kann Materie nicht durchdringen. Sie ist unserem Geist nicht zugänglich. Der Geist erlebt nur geistige Ereignisse. Er macht sich deshalb die Vorstellung von etwas Stabilem, da man Festigkeit nicht erleben kann. Er deutet sie inhaltlich als so etwas wie eine stoffliche Welt und stellt sich diese laufend vor. Der Glaube an Materie ist der Glaube an getrennte Objekte! Wie schwer fällt es mir, die Sicht dieses Glaubens zu verändern!

Der Geist ist leer von einer Unterscheidung zwischen sich selbst und etwas anderem als sich selbst. (S. 36/37)

Wir haben festgestellt, dass wir die Materie aufgrund einer Vorstellung unserer Sinne kreieren und sie mit Wörtern begreifen.
Das ist durchaus praktisch fürs Zurechtfinden in unserem Leben. Spontan ist mir ein Bild aus der Kindheit eingefallen: Die Einmachgläser auf dem Gestell in unserem Keller. Ein etwas veraltetes Bild. Gibt es überhaupt noch Eingemachtes? Die Gläser stehen also da, wohlgeordnet und ihrem Inhalt nach mit beschriebenen Etiketten versehen. So kann man schnell nach dem Richtigen, Gewünschten greifen. Man will doch die Birnen haben und nicht die Peperoni. Eigentlich könnte man den Inhalt durch das Glas erahnen. Man könnte sogar der wundersamen Birnengeschichte bis zu ihrem Weg in den Keller nachgehen. In meinem Geist gibt es jedoch keinen Raum für die Betrachtung ihres bedingten Entstehens. Zeit dafür habe ich sowieso keine. Die Birnen erscheinen meinem Geist ausschliesslich als Objekte für ein leckeres Dessert.
Das Benennen der Dinge ist rational und bringt Effizienz. Das Benennen durch Wörter ist Mittel zum Zweck für unser Funktionen im Alltag. Mit dem Benennen glauben wir auch, unser Leben durch Kontrolle im Griff zu haben. Die Etikettierung vermittelt einen Überblick über das Stoffliche. Die Dinge sind „etwas“ und haben scheinbar eine Eigennatur. Wir machen die Dinge „ein“, wir machen sie fest und brauchen diese Sicherheit für unser Leben. Und wir geben den Dingen durch begriffliche Beifügungen ihre einzige und wirkliche Wichtigkeit, weil wir sie auf unsere persönliche Art und Weise wahrnehmen.
Begriffliche Beifügungen existieren jedoch ausschliesslich für unsere Gedanken, darüber hinaus sind sie wesenlos.
Blicke ich zuhause zum Fenster hinaus, nehme ich den Kirchturm wahr und erfasse ihn automatisch als solchen. Die Katze von nebenan sieht bestimmt keinen Kirchturm. Ich weiss nicht, was sie sieht. Es ist mir jedoch klar, dass in der Verarbeitung meiner Wahrnehmung der Dualismus einsetzt.
Es gibt einen wirklichen Gewahrseinsmoment der Begegnung von innen und aussen. Es geht jedoch darum, uns nicht unbedingt auf die Dinge zu fixieren, die wir so gerne mit einem Etikett und begrifflichen Beifügungen in unserer Vorstellungswelt festnageln.
Nun etikettieren wir auf einer subtileren Ebene ja auch die Wesen um uns herum und uns selber sehr oft in Unwissenheit über die wahren Umstände und mit falschen Vorstellungen.
Hinderungen

Was macht es uns denn so schwer, diesen Reflex des Einordnens und Spaltens in Subjekt und Objekt anzuhalten?
Eine Antwort darauf können zum Beispiel meine schon früh erworbenen Verhaltensmuster geben, denen ein verletztes Ego, Ängste oder mangelndes Vertrauen usw., zugrunde liegen. Sie schaffen die Voraussetzung zu empfinden und zu denken, ich sei abgetrennt, isoliert, ausgeliefert. Ich lege mich fest auf eine bestimmte Position, die mir eine scheinbare Rückendeckung und Sicherheit gibt, meine ganz bestimmten Strategien einzusetzen, die jedoch meinen Spielraum für Begegnungen und Beziehungen mit Menschen einschränkt oder gar verhindert.

Der Denkreflex, dass ich verschieden und getrennt bin vom Objekt „da draussen“ vollzieht sich aus Gewohnheit ungeheuer rasch, er ist tausende Male eingeübt und wiederholt seit der Kindheit. Es passiert mir ganz automatisch und unbewusst, die Dinge und die Wesen mit Begriffen und Eigenschaften in meine Vorstellungswelt einzuordnen.

Im Alltag finden wir zudem unsere konventionellen Vorstellungen und Einstellungen oft bestätigt, weil die Menschen um uns herum dieselben haben. Wir erachten sie deshalb als richtig, gültig und wahrheitlich. Wir schwimmen mit in diesem Konsens, ohne ihn weiter infrage zu stellen.

Veränderungen

Wie können wir eine veränderte Sicht von uns selbst und von der Welt bewirken?
Der Entschluss, gegen den Strom zu schwimmen, bedarf einer bewussten Anstrengung, den Geist selbstbestimmt auf Veränderung auszurichten. Was heisst das nun zum Beispiel in Bezug auf meine persönlichen Verhaltensmuster?
Ich kann lernen, meinen geistigen Konstrukten auf die Spur zu kommen. Das können meine Wünsche, meine Konzepte, meine Vorstellungen sein, wie ich sein sollte, wie die anderen sein sollten oder die Identifikation mit dem, was ich zu sein scheine. Die dauernde Beschäftigung mit Identifikationen, die Berg - und Talfahrten von glücklich und unglücklich verursachen eine innere Unruhe, ein Getriebensein, eine Bewegung im Kreis, weil ich immer irgend etwas erwarte. Sie bildet einen engen Zaun um mich herum. Die Gedanken jagen sich gegenseitig zwischen Hoffnung und Furcht. Es geht darum, solche Spiele zu durchschauen und innezuhalten. Die entscheidende Frage ist: Wie reagiere ich auf einen bestimmten Sinnesinput? Was ist jetzt gerade wieder geschehen in meinem Denk - und Fühlmechanismus? Weshalb bleibt die Nadel dauernd in derselben Plattenrille hängen? Wo befindet sich der Kratzer, der den Fluss und damit eine Weiterentwicklung verhindert? Ich gehe in mich, um meine Muster zu erkennen und bewusst daran zu arbeiten, etwas zu verändern. Ich kann die Gebundenheit an eine solche sehr prägende Ich-Vorstellung aufgeben und meinen Geist ausrichten, weg vom Drehen in engen Ich-Belangen, hin zu einer offenen Bewusstheit, auf ein Gewahrsein in Situationen. Ich kann mich darin üben, mit dem Fluss jeder Situation eins zu sein und Momente in einer anderen Qualität erleben.

Es gibt also ein Bewusstsein, das nicht abhängig ist von meiner Sinnestätigkeit, ein Bewusstsein, in dem ich mich nicht als abgetrenntes, separates Wesen empfinde, das abhängig ist von Objekten. Ich kann die Ausrichtung meines Geistes dahingehend verändern.

In der Meditation erlebe ich in gesegneten Momenten den Geist als leer von Dualität und das Ruhen in mir selbst im Begriffslosen. Gelingt es mir, die Qualität dieser tief empfundenen Ruhe und das Loslassen von Konzepten mehr und mehr in meinen Alltag zu übertragen, kann ich verändert auf die Welt reagieren.

Ein weiterer wichtiger Aspekt des offenen Gewahrseins und eine logische Folge davon ist es, den Menschen mehr und mehr vorurteilslos zu begegnen. Ohne Spekulationen und Vorstellungen darüber, wie und was er oder sie ist oder sein könnte, einfach Wesensgleichheit erkennen, mich berühren lassen, von dem, was ist – das immer und immer wieder zu üben, das ist nicht ganz leicht, da mein Geist ja allzu gern seine Vorstellungen spielen lässt und etikettieren möchte...

Ich kann die Ausrichtung meines Geistes also immer wieder auf eine Freiheit hin lenken, die ich selber bestimme, darauf, nicht mehr in einem gewohnten Schema gefangen zu sein. Ich kann die Fähigkeit entwickeln, das Bewusstsein aktiv auf diese selbstbestimmte Freiheit auszurichten. Weil die beiden Geistesaspekte, der wahrnehmende und der wahrgenommene, miteinander verbunden und wechselseitig voneinander abhängig sind, folgt daraus für mich, dass ich gar nicht anders kann, als meinen Geist auf Bedingungen zu fokussieren, die heilsame Begegnungen und Inspiration ermöglichen und darauf, selber Raum zu schaffen für Heilsames.
All diese Bemühungen, die manchmal scheitern und manchmal erfolgreich sind,
finden mitten im verführerischen, faszinierenden Leben statt!

BETRACHTENDE MEDITATION

Vorbereitung

  • In welchen Situationen erlebe ich meinen Geist losgelöst, offen und weit? Wie fühlt sich das an?
  • In welchen Situationen erlebe ich meinen Geist fixiert, eingeengt, gefangen?

Wie fühlt sich das an?

Vor längerer Zeit hat mich ein Erlebnis eine Qualität des Bewusstseins wahrnehmen lassen, die mich tief berührt hat. Durch glückliche Umstände und völlig unerwartet erhielt ich die Gelegenheit, einem Konzert mit einem jungen russischen, aussergewöhnlich talentierten Pianisten in der Tonhalle in Zürich beizuwohnen. Die Bedingungen waren derart gut, dass es mir mit ganz wenig Ablenkung gelang, den Klängen der Musik in aller Tiefe zu lauschen. Dabei geschah es, dass mein abgegrenztes Ich, das immer wieder glaubt, sich mehr oder weniger verkrampft in der Welt behaupten zu müssen, dahinschmolz wie Schnee in der Sonne. Die Körpergrenzen lösten sich auf. Der Ozean der Klänge verband sich mit mir. Es fühlte sich rund an, ausdehnend, unbegrenzt, pulsierend, erfüllend. In den Momenten waren zudem alle Zeiten vorhanden: die Gefühle des Komponisten damals, interpretiert durch den Vortragenden, riefen meine eigenen Gefühle wach, die in die Zukunft hineinflossen. Durch meinen weich gewordenen Blick verloren die Gegenstände (Pianist, Flügel, Podium, Raum, die Zuhörer) ihre scharfen Konturen und in der Einheit des Geistes ihre Eigenschaft eines Gegen-Standes. Das „Gegen“ wird zum „Zusammen“. Das Erlebnis hat mich tief beglückt und lange nachgewirkt. Ich habe die Welt fliessend, spielerisch, offen erlebt, ohne Starrheit und Festigkeit. Ich fühlte Einheit, Verbundenheit und Zeitlosigkeit.
Musik ist eine wundervolle Ebene für die Öffnung und Weitung des Geistes.

Ein anderes Beispiel, wie wir offenes Gewahrsein üben können:

Vor unseren Augen haben wir einen herrlichen, weiss glänzenden Bergriesen im Berner Oberland, umrahmt von einem tiefblauen Himmel. Der Berg ist berühmt und bekannt. Üblicherweise sehen wir ihn als Ding und wollen ihn sogleich benennen, da wir natürlich wissen, wie er heisst. Ist das nicht der Fall, fragen wir vielleicht sogar den Menschen neben uns, der uns bestimmt helfen kann, unsere Wissenslücke zu stopfen. Anstatt den Berg auf diese übliche Weise zu sehen, können wir in völligem Loslassen der sattsam bekannten Reaktionsmuster einfach Verbundenheit mit ihm spüren. Gelingt es uns nämlich, von der Idee „Berg“, vom Fixiertsein auf die Objekthaftigkeit, loszukommen, fühlt es sich weicher, fliessender an, man könnte sagen, ich fühle mich weniger kompakt, durchlässiger, organisch, berührbar oder auch weniger abgeschnitten. Wenn wir keine Subjekt-Objektaufspaltung machen, erfahren wir das Sein, die wahre Wirklichkeit, unmittelbar.
Dieses offene Gewahrsein bewusst auch in Situationen zu üben, in die sich mein Geist allzu gerne verwickeln und damit verwirren lassen möchte, macht ihn zunehmend flexibler unabhängiger und freier.

TRAUM

Wir haben von der Sicherheit gesprochen, die wir im Leben so gerne haben möchten. Welche relativen Sicherheiten gibt es denn noch ausser dem Benennen und Begreifen, an dem wir uns festhalten? Wir erfahren zum Beispiel eine gewisse Kontinuität des Lebens, es gibt voraussehbare gleichmässige Abläufe, voraussehbare Ereignisse, wir haben ein Gefühl für Ursache und Wirkung. Tatsache ist, dass wir uns gerne in Sicherheit fühlen und um uns herum eine Welt spüren, die real ist und uns Halt gibt. Wir haften an dem, was uns lieb und teuer ist, wollen es nicht verlieren und empfinden Abneigung gegen das, was wir nicht mögen. Unser Tagesbewusstsein, der Wachzustand, suggeriert uns Sicherheit, Halt und Wirklichkeit.
Ausser der Erfahrung im Wachzustand gibt es noch unsere Traumerfahrung. Die Cittamatrins ziehen für die Erklärung ihrer Sichtweise der Leerheit gerne das Traumbeispiel heran. Wir sind geneigt, die beiden Erfahrungen Traum- und Wachbewusstsein voneinander zu trennen: „Ich habe geträumt“, oder: „ich bin wach“. Es ist mir schon oft passiert, dass mich eindrückliche, lebhafte Träume in den Tag hinein begleitet haben, so dass mir nicht ganz klar war, was ist jetzt real und was ist Inhalt des Traumes. Ich schien auf eine Art weiterzuträumen und den Trauminhalt mit der Tageserfahrung zu vermischen. Sind wir uns denn wirklich immer klar darüber, ob wir wach sind oder träumen? Ist es nicht so, dass wir z.B. mit einem verwirrten Geist traumartige Zustände erleben können oder dass wir träumend einen Traum für den Wachzustand halten, weil seine Geschichte folgerichtig, nüchtern und alltäglich ist?

Aus eigener Erfahrung gibt es keine eindeutigen Merkmale, die die Wacherfahrung von der des Traumes unterscheiden. Es macht aber Angst, den Wachzustand ernsthaft anzuzweifeln, weil uns damit quasi der Boden unter den Füssen weggezogen würde.

In einem meiner längst vergangenen Träume, den ich nie vergessen konnte, weil er mir so rätselhaft vorkam, gab es eine lange bewegte Geschichte, an deren Ende sich vor meinen Augen eine Bahnschranke mit einem Klingelton schloss. Der Klingelton kam aber aus dem Wecker neben meinem Bett!!
Subjektiv gesehen, hat mein Bewusstsein im Moment des Erwachens zwei Zeiten wahrgenommen, diejenige des Traumes und die des äusseren Objektes, des Weckers, die Zeit der Welt „da draussen“.
Das äussere Objekt, der Klingelton, hat in meinem Traumbewusstsein eine subjektiv erlebte, vermeintlich lange Geschichte erzeugt. Dabei bin ich erwacht. Der innerlich erfassende Gewahrseinsmoment, die Traumgeschichte, fällt mit dem äusserlich erfassten objektiven unmittelbar zusammen.
Mit diesem Traumgeschehen wird für mich die Sichtweise der Cittamatraschule erfahrbar:
Es erscheint ein äusseres Objekt und es entsteht ein Bewusstsein, hier ein Traumbewusstsein, das dieses Objekt, den Klingelton, wahrnimmt. Nach Ansicht der Cittamatrins bilden ein äusseres Objekt und ein wahrnehmendes Bewusstsein eine Einheit, sie entstehen gleichzeitig und sind ohne substantiellen Unterschied. Sie basieren beide auf unserem Geist.
Innerhalb unseres Traumerlebens nehmen wir äussere Objekte wahr, einen Hund, ein Haus usw. Es erscheint uns alles als real. Im Erwachen erkennen wir, dass der Traum eine erfundene Geschichte des eigenen Geistes war. So ist es auch mit dem Tagesbewusstsein: Beides sind zwar verschiedene Erfahrungen, jedoch Zustände ein- und desselben Geistes. Betrachte ich den Traum als eine Metapher für das Leben, erkenne ich, dass es keine äusseren, abgespaltenen Objekte gibt, die vom Geist verschieden sind. Das Traumgeschehen und das Wacherleben sind ein Spiel des eigenen Geistes.

ALLES GESCHIEHT IN EINEM MOMENT UND IST VON GEISTIGER SUBSTANZ.

In Bezug auf meinen Traum hat sich mir gezeigt, dass es, undualistisch gesehen, nur bedingtes Entstehen gibt, den Strom von beständigem Werden und Vergehen.
Als wahrnehmender und ich-denkender Geist nehme ich an, meine Traumerscheinungen würden als etwas auftreten, das ausserhalb meines geistigen Erlebens im Wachzustand vorhanden ist. Ich separiere das geistige Erleben im Traum von dem des Wachzustandes. Die äussere Welt und der innere Geist sind jedoch beide von Natur aus Geist.
Alle Dinge und Ereignisse sind in unserer Wahrnehmung, was sie sind, real. Es gab die erlebten Dinge im Traum und es gab den Wecker, ein äusseres Objekt. Sie erschienen, undualistisch gesehen, in gegenseitiger Abhängigkeit, waren gleichzeitig und durchdrangen sich.

In der Meditation, im Verweilen des Begriffslosen, kann ich erfahren und erleben, wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenfallen und sich gegenseitig durchdringen. Ich erlebe sie als Einheit und den Augenblick als ewig.
Buddha hat gesagt: „Man haftet nicht mehr an existent und nicht existent, wenn man gesehen hat, wie die Dinge entstehen und vergehen.“
Wie sich die Cittamatrins das Traumphänomen erklären, davon etwas später.
Nach der Lehrmeinung der Cittamatrins gibt es 8 Arten von Primärbewusstsein, nämlich
Das Bewusstsein unserer 5 Sinneswahrnehmungen:
das Augen-, Ohren-. Nasen-, Zungen und Körperbewusstsein, dann
das 6. Bewusstsein des Verstandes, des Intellektes, der Gedanken, der Worte, das zugehörige Organ ist das Gehirn,
das 7. verschleierte, überlagerte Bewusstsein, das sind die Geistesgifte, vermischt mit normalen Bewusstseinswahrnehmungen,
das 8. Primärbewusstsein ist das sogenannte Speicherbewusstsein.
Es hat die Eigenschaft eines Stromes von flüchtigen Gewahrseinsmomenten ohne ein „Selbst“. Man muss sich das so vorstellen, dass durch diesen Strom alle anderen Arten des Primärbewusstseins entstehen, samt ihren Objekten.
Das Speicherbewusstsein ist also die Basis für alle Arten von Primärbewusstsein. Es wird deshalb auch All-Basis genannt. Es ist das grundlegende Bewusstsein. Unser Bewusstsein ist sowohl All-Basis als auch Speicher für karmische Eindrücke oder Anlagen.
Vajramala hat einmal ein Bild für das Speicherbewusstsein genannt, das eine gute Vorstellungshilfe ist:
Man kann sich einen „grossen Tank“ unter unserem Haus vorstellen, das Unbewusste. In diesem Tank schwimmen viele kleine Samen. Dabei geht es um die Speicherung von Erfahrungen, Eindrücken, Erinnerungen, und zwar an alle Leben. Von einem Impuls ins Bewusstsein angezogen, können diese Samen aufsteigen und ihr Potential kommt zur Entfaltung. Nach der Ansicht der Cittamatrins werden das wahrnehmende Bewusstsein und das wahrgenommene Objekt durch die karmische Anlage im Speicherbewusstsein hervorgerufen. Es gibt also für die Cittamatrins keine Trennung von karmischer Anlage und den beiden Geistesaspekten. Beides bedingt sich und existiert innerhalb unseres Bewusstseins.
Deshalb ist es so entscheidend, welche Lebensumstände wir schaffen. Sieht man diesen Zusammenhang, kann man bewusst eine Umgebung schaffen, die heilsame Samen an die Oberfläche zieht. Diese kommen dann auch zum Wirken.

Unser Geist funktioniert als All-Basis. Sie ist die Ursache für die Kontinuität des Geistes während unseres Lebens, über den Tod hinaus bis zur Wiedergeburt, während des Tiefschlafs, des Traumes, während der meditativen Versenkung. (S. 38)

Kommen wir nun nochmals auf die Träume zurück: Interessant ist, wie sich die Cittamatrins die Entstehung des Traumes erklären. Die 6 Primärbewusstseinsarten, die sich gewöhnlich nach aussen den Sinnesobjekten zuwenden, ziehen sich während des Traumes zurück und verlieren sich im Speicherbewusstsein, ähnlich Wellen, die sich im Meer auflösen. Das Speicherbewusstsein beginnt, sich in sich selbst zu bewegen, es kreiert Vorstellungen von Subjekten und Objekten, Geschichten, die der Geist für wirklich hält und gleich erlebt wie die Erfahrungen im Wachzustand. (S. 35)
Nochmals: Die Cittamatrins behaupten, dass es keinen essentiellen Unterschied gibt hinsichtlich der Substanz des Traum- und des Wacherlebens. Beide sind Aspekte des eigenen Geistes.

Ein Wort zum 7. Primärbewusstsein, zum verblendeten Aspekt des Geistes: er ist es, der die Idee einer Dualität produziert. Werden die Samen unserer gewohnheitsmässigen Gedanken und Verhaltensmuster aktiviert, produzieren sie gleichzeitig das erkennende Subjekt und das erkannte Objekt. Das 6. Primärbewusstsein, das geistige, etikettiert und benennt. Es entstehen begriffliche Beifügungen. Jedoch keines der „Etwas“, auf die sie sich beziehen, existiert von sich aus als eine natürliche Grundlage für das Hinzufügen von Konzepten. Die „Etwas“, die Entitäten sind schlicht etwas Eingebildetes. (S. 40)

Wenn wir Befreiung erlangt haben und die All-Basis von den Verwirrungen und Verschleierungen der dualistisch orientierten Primärbewusstseinsarten geläutert ist, zeigt sich das „wahrhaft Seiende“. Das Speicherbewusstsein ist dann rein von karmischen Bildungen. Wir erleben den Geist wahrnehmend und erkennend als begriffslosen Weisheitsgeist, als Leerheit, die sich erfüllt anfühlt, unbegrenzt, als lichthafte Klarheit. Der begriffslose Weisheitsgeist erkennt, dass keine separaten erfassten und erfassenden Entitäten in einem Erlebnismoment vorhanden sind.
Dann sind wir fähig, auf die Welt mit Liebe und Weisheit zu reagieren ohne dualistische Unterscheidungen und wir nehmen wahr, ohne in Schematas zu handeln.
Die geistige Natur selbst ist diese Nicht-Festigkeit und dieses Nicht-Letztgültige. Mehr und mehr in ihr zu erleben, mitzufliessen im Strom des Lebens, immer und immer wieder das Loslassen üben, an nichts krampfhaft festhalten wollen, das bewirkt kontinuierlich ein Gefühl von Befreiung.

Abschliessen möchte ich gerne mit einer kürzlich in der Zeitung gelesenen Feststellung des Filmschaffenden Woody Allen, der anscheinend sehr am Leben leidet. Er sagt: „Wir brauchen Trugbilder, weil das Leben sonst unerträglich wäre.“

Wir erkennen durch eine veränderte Sichtweise, dass das Leben selbst auf die Art und Weise, wie es unser konventioneller Geist wahrnimmt, ein Trugbild ist.

Anmerkung: Das kursiv Geschriebene mit den Angaben der Seitenzahlen entstammt dem entsprechenden Text aus „STUFENWEISE MEDITATIONSFOLGE ÜBER LEERHEIT“ von Khenpo Tsültrim Gyamtso Rinpoche. 1994 Kagyü-Dharma Verlag

Dharmavortrag zum Abschluss des zweiten Studienabschnitts „Der Buddhismus des Mahāyāna“, 30.01.2015 im Dharmazentrum Schaffhausen

Autor/Autorin des Textes: 

Prajnaparamita - Die Vollkommenheit der Weisheit

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Shantidevas Rede wurde bei ihrer endgültigen schriftlichen Fassung im elften Jahrhundert in zehn Kapitel aufgeteilt und erhielt den Titel „Der Weg des Bodhisattvas“. Der Text beschreibt den gesamten Weg, vom ersten Erwachen von Bodhicitta bis hin zur Verwirklichung der Leerheit, aufgeteilt in unterschiedliche Paramitas, das heisst Tugenden, die zu üben und zu verwirklichen sind.

Für diesen Vortrag wurde mir Kapitel neun, in dem Shantideva über die Tugend der Weisheit spricht, zugeteilt. In der Einführung zu Shantidevas Text steht zu Kapitel neun: „Das komplexeste, wie auch das schwierigste Kapitel ist das neunte“ (Diego Hangartner, Shantideva Anleitungen auf dem Weg zur Glückseligkeit, S. 15/Fischer Verlag, Frankfurt am Main). Auch im buddhistischen Lehrsystem haben die Schriften über die Weisheit einen sehr hohen Stellenwert, so auch dieses neunte Kapitel in Shantidevas Werk. In den Schriften über die Weisheit findet die Essenz von Buddhas Lehre ihre Vollendung.

Pema Chödrön, die in ihrem wunderbaren Buch „Es ist nie zu spät“ die Rede Shantidevas interpretiert, lässt das neunte Kapitel gleich ganz weg.
Sie sagt dazu: „ Zwar sind diese Lehren über die Paramita der Weisheit wichtig im Gesamtzusammenhang des Werkes, aber sie sind im Vergleich zum restlichen Text geradezu furchteinflössend anspruchsvoll“, (Pema Chödrön, Es ist nie zu spät, S. 15/Arbor Verlag, Freiamt im Schwarzwald).
Um sich mit dem neunten Kapitel auseinanderzusetzen verweist Pema Chödrön auf ein von «Seiner Heiligkeit», dem Dalai Lama, verfasstes Buch, in dem er sich allein mit diesem Kapitel beschäftigt. Leider reichte mein Englisch nicht aus um dieses Buch zu lesen. Vielleicht war das auch ganz richtig so, denn ich weiss nicht ob ich mich danach noch getraut hätte meine bescheidenen Erkenntnisse in Worte zu fassen. Doch so wurde dieser Vortrag zu meinem ganz eigenen Werkstück.

Geholfen haben mir dabei die Schriften von Lama Govinda, Michael von Brück und Hans Wolfgang Schumann sowie meine Lehrerin Sita. Auch Kalyani und Kshanti haben sich geduldig mit meinen Aussagen befasst und mir Mut gemacht. Nun freue ich mich darauf mit euch all das teilen zu dürfen, was ich von Shantidevas Aussagen zur Vollkommenheit der Weisheit verstanden zu haben glaube, und ich lasse natürlich den grossen Meister Shantideva selbst immer wieder zu Wort kommen. Ich bitte euch im Stuhl zurückzulehnen und meinen Worten ganz entspannt zu folgen. Wenn ihr am Schluss nicht mehr wisst, was ich gesagt habe, und keine klugen Fragen stellen könnt, spielt das keine Rolle. Es geht um Weisheit und nicht um Wissen. Wenn es auch nur einen kurzen Augenblick gelingt den Weisheitsgeist in euren Herzen zu berühren, ist alles erreicht was zu erreichen ist.
Ich lade euch ein mich auf der Reise durch das neunte Kapitel zu begleiten.

Wortdefinitionen
Bevor wir starten, möchte ich gerne ein paar Ausdrücke, die ich verwenden werde, erklären, obwohl sie schon einige Male erklärt worden sind. Vor allem möchte ich den epochalen buddhistischen Kontext, innerhalb dessen sich Shantidevas Rede entfaltet, sichtbar machen.
Die absolute Weisheit oder die Vollkommenheit der Weisheit bezeichnet man im Sanskrit als Prajnaparamita. In diesem einen Begriff wird die ganze Lehre in wenigen Worten zusammengefasst.
Prajna heisst Weisheit;
param wird abgeleitet vom Verb paragam, was soviel bedeutet wie hinüber gehen;
ita setzt das Verb in die Vergangenheitsform, also bereits hinüber gegangen zu sein. Ganz hinüber gegangen sein, dahin, wo es kein Leiden mehr gibt. Ita bezeichnet eigentlich den Prozess um vom Ufer des Leidens zum Ufer der Befreiung vom Leiden zu gelangen.
Paramita als ganzes Wort verwendet, meint die Tugenden oder Fähigkeiten, die es auf diesem Weg braucht um sich vom Leiden zu befreien. Man könnte auch sagen, dass die Paramitas das Floss, respektive unsere Anstrengungen sind, mit dem wir den Ozean des Leidens durchqueren.
Den ersten Wunsch sich auf diesen Weg zum anderen Ufer zu machen, nennt man Bodhicitta, den erwachenden Erleuchtungsgeist, den jeder von uns in sich trägt.

Bodhisattva Ideal
Das Boddhisattva Ideal bezeichnet den tiefen inneren Wunsch alles Erlernte und Erfahrene mit allen fühlenden Wesen zu teilen und die Erleuchtung für alle Wesen anzustreben und zu verwirklichen. Alle Verdienste, alles Erreichte will hingegeben werden um den anderen Wesen auf ihrem Weg zur Befreiung zu helfen. Das Ziel eines Bodhisattvas ist nicht das Eingehen ins Nirvana, sondern die Rückkehr in eine menschliche Inkarnation solange bis alle Wesen vom Leiden befreit sind. Seine Heiligkeit, der vierzehnte Dalai Lama, sagt in Bezug auf seine nächste Inkarnation: „Solange die Welt besteht, solange es fühlende Wesen gibt, solange es Leiden gibt, solange werde ich da sein um zu dienen. Das ist unsere wahre Aufgabe im Leben.“ (Mickey Lemle, DVD, der letzte Dalai Lama/mindjazz-pictures 2018)
Die Verwirklichung von Prajnaparamita, der Vollkommenheit der Weisheit, oder die höchste aller Weisheit kann als „Die Weisheit, die die Leerheit versteht,“ bezeichnet werden. Das absolute Verstehen der Leerheit ist hier der Schlüssel zur Befreiung.

Nun beginnt die Reise zu meinem Verständnis von Prajnaparamita in Shantidevas neuntem Kapitel:

Leerheit erklärt anhand des bedingten Entstehens
Wenn ich von Leerheit spreche, dann meine ich nicht eine grosse dunkle Leere und ich spreche auch nicht vom Nichts. Man könnte diesen Ausdruck leicht mit einer nihilistischen Weltanschauung verwechseln oder als einen idealistischen negativen Ich- Komplex verstehen, der uns das Recht auf ein glückliches und erfülltes Leben abspricht. Doch darum geht es nicht, Leerheit meint ganz etwas anderes, wie wir nun schon ein paar Mal gehört haben. Leerheit bezeichnet die Tatsache, dass alle Objekte und Erscheinungen leer sind von einer eigenständigen Existenz. Das heisst, sie existieren zwar, aber nicht für sich allein. Sie sind abhängig von vielen verschiedenen Faktoren entstanden. Nehmen wir zum Beispiel einen Schneemann. Ich würde niemals behaupten, da sei kein Schneemann, wenn ich vor einem stehe, nein, er ist da. Aber ich würde auch niemals behaupten, ein Schneemann sei irgendwie aus sich selbst heraus allein entstanden und würde nun für immer und ewig so bleiben wie er im Moment ist. Genauso wenig kann man behaupten der Schneemann würde eines Tages einfach spurlos wieder verschwinden.

Shantideva
Wie auch immer, die Wahrnehmungen von Sehen und Hören
Werden hier nicht verneint
Was widerlegt wird, ist die Ursache des Leidens
Nämlich die Vorstellung, dass Phänomene wirklich existieren.

(Shantideva, Kapitel 9, Vers 25/Seite 237)

Um einen Schneemann zu bauen brauchen wir Schnee und wir brauchen einen Körper, Hände und eine Idee, einen Gedanken. Alles ist voneinander abhängig. Schnee bedingt Wasser und Kälte und um den Schneemann zum Schmelzen zu bringen braucht es Wärme. Wenn er geschmolzen ist, ist er ja nicht verschwunden, dann hat er nur die Form gewechselt, von Schnee und Eis zu Wasser. Genauso verhält es sich mit allen Formen, den materiellen und geistigen Objekten, die wir sind und die uns umgeben. Ein Schneemann besteht wie unser menschlicher Körper aus den Elementen, er entsteht und vergeht in Abhängigkeit zu allen anderen Formen - soweit die Leerheit der Formen, erklärt durch das bedingte Entstehen.

Das bedingte Entstehen zu verstehen, beendet jedoch unsere Leiden noch nicht. In Wahrheit existieren weder das Subjekt noch das Objekt, da alles nur Geist ist. „Die Gesamtheit des Seins ist leer von einer substantiell bestimmten Dualität zwischen Geist Materie“, ( Khenpo Tsültrim Gyamtso Rinpoche, stufenweise Meditationsfolge über Leerheit, Zweites Stadium: Chittamatra, S.32/Kagyü-Dharma Verlag 1994).

Leerheit erleben in der Meditation
Wenn der menschliche Körper vergeht, löst sich die Form des individuellen Bewusstseins ebenfalls auf und es offenbart sich das universelle Bewusstsein in seiner Essenz-Natur von Raum, Licht und Liebe. Das sind weise Worte, doch um auch nur annähernd zu verstehen was das heisst, braucht es den Weg über die Meditation, mit meinem Intellekt kann ich das nicht erfassen. Mit der Atemmeditation, Anapanasati, öffnet sich in meinem Geist immer wieder der Zustand der Leerheit oder der Soheit, wie immer man das bezeichnen möchte. Wenn ich kurz durch diese Öffnung gehen darf, entsteht ein Geisteszustand der Weite, nichts kann ergriffen oder benannt werden, ich nehme alles ganz intensiv und glasklar wahr ohne es irgendwie einordnen oder gedanklich verfolgen zu müssen. Es ist alles da, ich höre die vereinzelten Rufe eines Vogels und die Geräusche eines Flugzeuges, ich spüre die leichte Unruhe in meinem Solarplexus und erlebe den kühlen Wind der durchs Fenster weht, Gedanken kommen und vergehen und mein Geist ist weit, innen und aussen verlieren die Grenzen und trotz viel Bewegung ruhe ich still in meiner Mitte.

Shantideva
Wenn Existierendes und Nicht-Existierendes
Nicht vor dem Geist erscheinen,
dann bleibt ihm nichts anderes übrig
ohne Konzepte ist der Geist zur Ruhe gekommen

(Shantideva, Kapitel 9, Vers 34/Seite 241)

Die Natur des Geistes
Alles ist wie es ist, haben und nicht haben wollen sind für einen kurzen Moment verschwunden und das Bewusstsein erkennt sich in sich selbst. Im Spiegel des Geistes schaue ich die Manifestationen des Geistes. Diesen Satz habe ich von Kshanti bekommen, er verweist auf die spiegelgleiche Weisheit unseres Geistes. Alles ist gleichzeitig da, Markus, der im Zimmer unter mir hustet, das Geräusch des Flugzeuges am Himmel, der kurze Schrei des Vogels, der Schmerz in meinem angewinkelten Knie und der Geruch von frisch gebackenem Brot. All das sind Bestandteile dieses einen Augenblicks, während dessen sich ein tiefer Friede in mir ausbreitet. Mein Geist ruht in seiner ursprünglichen Natur, nicht gegenständlich, voll von Qualitäten, rundum wahrnehmend, nicht greifend und friedvoll. Er ist leer vom Haften und trotzdem sind alle Formen da. Form und Leerheit sind gleichzeitig wahrnehmbar, der Geist in seinem natürlichen Zustand eines leeren Spiegels, die Formen, die in diesem Spiegel erscheinen und das Erkennen, dass Formen, die in einem Spiegel erscheinen, nicht wirklich sein können. Es sind nur Geistspiegelungen und sie sind auch nicht vom Spiegel/respektive vom Geist zu trennen, sie haben keine wirkliche oder unabhängige Existenz, sie sind leer. Der Geist verweilt in der Erfahrung des gegenwärtigen Moments und er unterteilt nicht in Subjekt und Objekt, also in den Erlebenden und das Erlebnis.

Shantideva
Wie kann etwas, dessen Wesen es ist, einen Klang zu erfassen,
sich wandeln und eine Form erfassen?
Es kann doch auch eine Person gleichzeitig Vater und Sohn sein.
Dies sind nur Bezeichnungen, die für die absolute Wirklichkeit nicht zutreffen

(Shantideva, Kapitel 9, Vers 63/Seite 249)

Weisheitsgeist
Diese kleinen, aber für mich ganz grossen Momente, erlebe ich als das Aufscheinen des Weisheitsgeistes in mir und sie wecken den Wunsch den Weg unbeirrt weiterzugehen und alles, was ich dabei erfahre, mit allen anderen Wesen zu teilen. Mein Herz ist dann für eine Weile erfüllt von Liebe und Mitgefühl für mich und alles, was mich umgibt.

Shantideva
Alle Zweige der Lehre
Hat der Weise (Buddha) um der Weisheit willen unterrichtet.
Wer den Wunsch hat die Leiden zu beenden
Sollte darum Weisheit entwickeln.

(Shantideva, Kapitel 9, Vers 1/Seite 231)

Alltagsbewusstsein und Leiden
Das Betrachten des bedingten Entstehens vertieft mein Mitgefühl und das Wissen um die Unantastbarkeit des immerwährenden Bewusstseinsstroms erfüllt mich mit Leichtigkeit. Doch das sind Momente, kurze Blicke zum „anderen Ufer“ und dann kehrt mein Alltagsbewusstsein zurück und verdeckt die wahre Wirklichkeit. Ich bin erneut gefangen in der konventionellen Wahrheit, in der meine eigenen Erfahrungen und Prägungen, gepaart mit den gesellschaftlichen Normen und Werten, mein Leben bestimmen und unbarmherzig Leid erschaffen.

Shantideva
Konventionelle und absolute Wahrheit
Sind die beiden anerkannten Wahrheiten.
Absolutes liegt nicht im Bereich des Verstands
Der Verstand umfasst nur das Konventionelle

(Shantideva, Kapitel 9, Vers 2/Seite 231)

Denken wir an den Schneemann, dann wird uns klar, dass wir leiden müssen, wenn wir uns an die Vorstellung klammern, er wäre etwas Eigenes, Getrenntes und würde niemals vergehen. Ganz kleine Kinder tun das und sie leiden, wenn er schmilzt. Wir leiden ebenfalls an der falschen Vorstellung, dass weder unser eigener noch die Körper unserer Liebsten vergehen sollten und wenn doch, dann bitte wenigstens ohne Krankheit und Schmerzen. Wir leiden daran, dass wir die Tatsachen des Lebens, das bedingte Entstehen und Vergehen, und die nicht wirkliche Existenz, die Leerheit aller Objekte, nicht wahr haben wollen. Würden wir den Schneemann oder unseren Körper von Anfang an als etwas betrachten, das abhängig von vielen verschiedenen Faktoren für einen Moment die Form angenommen hat, die wir gerade erleben, und dass Form nichts Wirkliches, also nichts Starres und Unvergängliches, sondern eine Spiegelung in unserem Geist und von daher nur eine Geistform ist, dann könnten wir jeden Augenblick geniessen und würden uns auf keinen Fall an etwas so Unbeständiges, Unwirkliches wie einen Schneemann oder unseren Körper klammern. Dass unser Körper für immer bestehen bleiben sollte, ist eine unserer grössten Illusionen, eines unserer grössten Hindernisse auf dem Weg zur Befreiung, und sie wird allein in unserem Geist erzeugt.

Shantideva
„ Die Illusionen sind Erzeugnisse des Geistes und nichts anderes,
sie sind aber auch etwas anderes als Geist“
„Falls sie real wären, wie könnten sie sowohl das eine als auch das andere sein?“

(Shantideva, Kapitel 9, aus Vers 26/Seite 237)

Hindernisse auf dem Weg zur Befreiung
Die Wahrheit des Lebens sagt etwas ganz anderes als das, was wir gerne hätten. Ein menschlicher Körper verändert sich dauernd, zuerst vom Baby zum Greis, danach zerfällt er in seine Einzelteile und wird zu Asche oder Erde. Wir alle wissen das, trotzdem leiden wir, wenn es uns oder unseren Liebsten geschieht. Wir leiden, weil wir das bedingte Entstehen und Vergehen und die Fatamorgana ähnliche Erscheinung von allen Formen und Phänomenen nicht wirklich erkennen, weil wir die Leerheit, die Objekt und Subjekt nicht trennt, noch nicht verstanden haben. Doch genau diese Hindernisse bringen mich immer wieder auf den Weg zurück. Wenn es nicht so läuft wie ich mir das vorstelle, wenn mich Krankheiten und Existenzängste quälen, wenn ich mich in den unendlich vielfältigen, leidvollen Formen meines EGO Konstrukts verliere, weckt das den intensiven Wunsch mich von diesem Leiden zu befreien. Je grösser das Leiden umso tiefer der Wunsch. Deshalb sollten Hindernisse als Wegweiser, als Hilfen statt als Hürden, betrachtet werden und sie verdienen unsere Dankbarkeit.

EGO-Konstrukt
So tief und beständig wie unser Anhaften an unserem Körper, ist unser Anhaften an der Vorstellung eines eigenständigen Selbst.
Dabei ist unser EGO eine geistige Form, also eine Geistform, deren Ausbildung wir recht gut zurückverfolgen können. Wenn wir die Verhaltensweisen und Werthaltungen unserer Eltern, Grosseltern, unserer Geschwister, Nachbarn und Lehrer und unserer Umgebung, in der wir aufgewachsen sind, betrachten, entdecken wir ganz sicher viele Bausteine, aus denen wir unser EGO konstruiert haben.

Shantideva
Die Muskeln und die Haut sind nicht das Ich
Die Körperwärme wie die Körperwinde sind auch nicht das Ich
Ebenso wenig sind das Ich die Körperhöhlen
Und in keiner Weise sind das Ich die sechs Sinneswahrnehmungen

(Shantideva, Kapitel 9, Vers 59/Seite 247)

Shantideva untersucht alle Bestandteile des Körpers ganz genau und kommt immer zu demselben Schluss, das Ich ist nirgends zu entdecken. Ebenso wenig kann er das Ich im feinstofflichen Bereich erspähen, es ist nicht da. Unser so heiss geliebtes und in jeder Situation von uns verteidigtes Ich hat keine wirkliche Existenz, es ist leer.

Shantideva
Falls es das Ich wirklich gäbe
Würde es sich vor allerlei fürchten
Da es das Ich jedoch nicht gibt
Wer hat Angst?

(Shantideva, Kapitel 56, Vers 2/Seite 247)

Es ist einfach nur eine durch verschiedene Bedingungen entstandene Idee von uns selbst, die in keiner Weise dem entspricht, was wir wirklich sind, nämlich eine bedingt entstandene individuelle Ausformung des universellen Bewusstseins, so wie eine Welle im Meer entsteht und trotzdem wie das Meer selbst immer Wasser bleibt. Hätte ich diese Weisheit, die Weisheit der Leerheit, wirklich verstanden und verinnerlicht, dann hätte ich in der Tat keine Angst mehr, weder vor dem Leben noch vor dem Sterben. Ich wäre frei und könnte meine ganze Kraft dazu verwenden anderen Wesen auf ihrem Weg zur Befreiung zu helfen.

Shantideva
Wann werde ich, ohne etwas als wirklich zu erfassen
Mit Hochachtung das Verdienst ansammeln
Und jenen Wesen, die zerstört werden durch
Das Etwas-für-wirklich –Halten, die Leerheit offenbaren?

(Shantideva, Kapitel 167, Vers 2/Seite 279)

Die Vollkommenheit der Weisheit und die Erkenntnisse der Quantenwissenschaft
Die Verwirklichung der vollkommenen Weisheit bedeutet aber auch, dass unser intellektuelles Denken, also unser Gehirn mit unserem Herzen eins geworden ist. Wir denken mit dem Herz und fühlen mit dem Verstand. Die modernen Naturwissenschaftler, vor allem die Astro- und Quantenphysiker, sind den Erkenntnissen des Buddha schon ganz nah gekommen. Sie wissen, dass sich Materie anders verhält, sobald sie von einem Menschen beobachtet wird, und sie wissen auch, dass das Herz genauso viele Gehirnzellen enthält wie das Gehirn selber, also ist unser Herz auch physisch in der Lage zu denken. Dass die Verbindung zwischen Hirn und Herz unsere menschlichen Fähigkeiten erst zur vollen Entfaltungen bringt, ist unterdessen auch klar und es gibt verschiedene von Quantenwissenschaftlern entworfene Methoden um dies zu fördern.

Liebe und Mitgefühl
Auf einer Veranstaltung des Quantenwissenschaftlers Greg Braden, bei der es eben darum ging die Verbindung zwischen Herz und Hirn herzustellen, sah ich ein Video über zwei viel zu früh geborene Zwillingsmädchen. Unmittelbar nach der Geburt wurden die beiden in je einen Inkubator gelegt. Während das eine, etwas grössere und stärkere Mädchen, sich von der Geburt erholte, wurde das andere zusehends schwächer. Daraufhin entschied das Team auf der Intensivstation das kaum mehr lebensfähige Baby in den Inkubator neben das stärkere Zwillingsmädchen zu legen. Nachdem dies geschehen war, wurde das Kind wieder an die Monitore, die seine Vitalfunktionen überprüften, angeschlossen. Nun konnte man beobachten, wie das gesündere kleine Mädchen seinen Arm anwinkelte, ihn hob, dann ausstreckte und ihn quer über die Brust seiner sterbenden Schwester legte. In diesem Moment stabilisierte sich deren Herzschlag. Als ich dieses Video sah, war ich zutiefst berührt und ich bin es heute noch. Wie konnte dieses winzige, nur wenige Stunden alte, zu früh geborene Wesen wissen, was es tun musste um seiner Schwester zu helfen?

Prajnaparamita, die liebende vollkommene Weisheit in Aktion. Manchmal, wenn wir über eine schwierige Situation sprechen, fragt Sita „und was sagt die liebende Weisheit dazu?“
Sie sagt, wir brauchen einander, wir sind miteinander verbunden, wir alle sind eine individuelle Ausformung desselben, einen Bewusstseinstroms und im Grunde genommen sind wir alle einfach nur Liebe und Mitgefühl, Prajnaparamita, liebende Weisheit. Wie sonst hätte dieses winzig kleine Mädchen genau gewusst was in jenem Moment zu tun war?

Schlusswort
Um das zu erreichen, um zu werden was wir schon immer waren, gab uns der Buddha die Paramitas, die zu verwirklichenden Tugenden mit auf den Weg. Doch wir können diesen Weg nicht gehen ohne
• die heiligen Texte systematisch zu studieren
• deren Inhalte zu meditieren
• und das Erlernte/Erfahrene gleichzeitig im Alltag zu üben

Um das tun zu können brauchen wir Unterstützung durch eine gute Lehrerin, wir brauchen die Schriften und jemanden, der uns diese erklärt, und wir brauchen unseren Sangha, mit dem wir den Weg gemeinsam gehen und unsere Erfahrungen teilen können.

Ich bedanke mich für euer achtsames Zuhören und möchte zum Schluss mit euch gemeinsam das Mantra der Göttin Prajnaparamita, der Verkörperung aller Weisheiten singen.

Gehen, gehen,
Hinüber gehen,
hinüber gegangen sein
zum anderen Ufer, zum Ufer des Erwachens

Om gate gate
Paragate parasam gate
Bodhi svaha

Autor/Autorin des Textes: 

Die Erweckung des Vertrauens

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 Vertrauenserweckung oder die Erweckung des Glaubens

Diese Prüfungsarbeit aus dem Systematischen Studium des Buddhismus von Inge Bongers handelt von einer frühen Mahāyāna Schrift, in der die Philosophie der Soheit entfaltet wird. Inge Bongers zeigt an ihrem eigenen Weg, wie wir damit praktizieren können.

Zur Einstimmung möchte ich Euch zu einer kurzen Besinnung über den Titel einladen

Ihr könntet in Euch hineinspüren,
Was verbindet ihr mit den Worten oder Begriffen Vertrauen und Glauben, wie findet ihr diese in euch wieder?

Ich wurde im Zusammenhang mit dem Titel dieses Śastras und beim Studium des Inhalts einmal mehr mit meiner Geschichte konfrontiert:
Denn der Glaube war mir in meiner christlichen und deutschen Herkunftsfamilie gründlich ausgetrieben worden, Glauben stand für mich auch sehr eng mit Gehorsam und mit Blindheit in Verbindung.
Deshalb wollte ich nur noch das glauben was ich sah oder was materialistisch begründbar war. Ich bildete mir damals ein, dass das der sicherste Weg durch die Lebenswirrnisse sein würde.
Und das Vertrauen in mich und in andere war zutiefst erschüttert.
Dennoch hatte ich immer Fragen nach Sinn und Verbundenheit. Ich hatte Wahrnehmungen von rational nicht erklärbaren Phänomenen und war intuitiv auf der Suche – nach Sinn und nach Spiritualität.

Als wir uns im ersten Semester des 2. Studienabschnitts mit diesem Śastra „Vertrauenserweckung“oder „Erweckung des Glaubens“ befasst haben, wurde ich also wieder mit meinen alten Erfahrungen und Mustern konfrontiert, obwohl ich doch meinte auf meinem spirituellen Weg schon etwas voran gekommen zu sein:
Ich verstand das Śastra einfach nicht.
Alle meine mühsam errungenen Bewältigungsstrategien des Intellekts und der Sprache wurden in Frage gestellt und das Ego hat rebelliert:
als spontane Gegenreaktion kamen Selbstentwertung, Ablehnung und Zorn auf. Um mich kognitiv dem Inhalt anzunähern, also auf meine wohlvertraute dualistische Weise, habe ich unter anderem versucht mir den Inhalt durch graphische Darstellungen zu erschliessen.
Mein Vertrauen schien in diesem Moment dahin!

Ich muss gestehen, dass ich mit dieser Abwehr noch einmal kurz und heftig konfrontiert wurde, als mir die Bearbeitung des Śastras für den Dharmavortrag zufiel.
Und das passierte, obwohl ich doch eigentlich inzwischen erkannt hatte, wie sehr ich immer noch gefangen war in meinen alten Konzepten, Selbstüberzeugungen und im Dualismus der Sprache, deren Gebrauch ich doch so eifrig geübt hatte.

Auf dem Weg des Studiums hatte es einige geschickte Mittel gebraucht, um meinen dualistischen, begrifflich fixierten, verwirrten Geist noch tiefer zu durchschauen und mich für die Weisheit des Śastras zu öffnen.
Diese geschickten Mittel wurden uns allen an Studientagen, Dharmaworkshops, Meditationsabenden und Retreats zuteil!
Und sie standen mir schliesslich doch auch wieder zur Verfügung.

Das Śastra gilt als verdichtete Quintessenz der Weisheit des Mahāyāna-Buddhismus und hat das Ziel, alle Wesen zu ihrer ursprünglichen Geistnatur, der allen Wesen innewohnenden Erleuchtung, zu führen, indem es Vertrauen und Glauben erweckt.
Auf unserem Weg durften wir im Studium der Weisheitsliteratur vieles erwägen, bedenken, prüfen und zunehmend erfahren.
Aber für die letzte Strecke des Weges brauchen wir Vertrauen, Glauben und Hingabe an den Dharma und unsere Lehrerinnen, die uns führen, sonst können die feinsten Schleier der Unwissenheit und Verblendung nicht gelüftet werden.

Ich möchte Euch an meinen Erfahrungen teilhaben lassen, die ich auf dem Weg mit dem Śastra gemacht habe.
Es gibt in dem Śastra ein Gleichnis dafür, dass es für die Entstehung eines Resultats immer Hauptursachen und begleitende oder mitwirkende Ursachen geben muss. In dem Gleichnis wird das an dem Beispiel vom Holz und seiner Brennbarkeit dargelegt.
Und dasselbe gilt eben auch für die Erweckung des Glaubens in den spirituellen Weg, den Dharma und unsere Fähigkeit, Erleuchtung zu erlangen:

Das Holz verfügt über eine latente Feuernatur, es trägt also die Hauptursache für seine Brennbarkeit in sich. Aber es kann sich nicht selbst entzünden.
Damit das Holz brennen kann, also seine latente Feuernatur manifest werden kann, braucht es begleitende Ursachen, z.B. in Form von Menschen, die wissen wie man Feuer macht, oder einen Blitzeinschlag.
Analog dazu trägt jedes Wesen als Hauptursache die Fähigkeit zur Erleuchtung als tiefen Seinsgrund in sich – nur dass dieser Seinsgrund verdeckt ist durch Verblendung und Verwirrung des Geistes und sich der Mensch nicht aus sich selbst heraus erleuchten kann.
Damit die Menschen sich auf den Weg der Befreiung machen, brauchen sie ebenfalls begleitende Ursachen, ohne die sie die Erlösung nicht erreichen würden, ohne die ihre Fähigkeit zur Erleuchtung nicht manifest werden kann. Sie können im Laufe ihres Lebens auf einen Buddha oder Bodhisattva treffen oder einem spirituellen Freund begegnen der sie führt und dies ist mir ja schon vor langer Zeit passiert:

In der Begegnung mit meiner spirituellen Freundin Sita kam ich in Kontakt mit dem Dharma und durfte an ihrem Weg teilhaben. Mein Vertrauen zu ihr und ihre vielschichtigen geschickten Mittel haben mir geholfen, zu dem Pfad zu finden und sie hat den Samen des Glaubens gesät und gestärkt.

Meine dualistische Sichtweise auf die Welt und damit auch auf den Dharma, hat sich dennoch zäh gehalten:

Nirvana hatte ich lange irgendwo ausserhalb verortet, es schien mir etwas zu sein, was mühsam errungen werden muss, und gar ein Buddha zu werden, war für mich eigentlich unerreichbar, dieses Leben jedenfalls würde dafür nicht reichen.
Ganz subtil hat sich auch die idealisierende Überzeugung gehalten, dass ein Erleuchteter mit leisem Lächeln durch diese Welt schreitet, keine Gefühle mehr hat, ausser dem grenzenlosen Mitgefühl, niemals zornig wird, also kurz über alles verfügt, was ich nicht kann bzw. mir nicht gegeben schien!

Wir alle haben uns auf dem Weg schon mit vielen Themen der Lehre des Dharma auseinandergesetzt: z.B. dem bedingten Entstehen, den Geistesgiften, dem Loslassen von Anhaftungen und dem Üben von Mitgefühl.

Für mich war das Durchschauen der dualistischen Sicht dabei von zentraler Bedeutung und hat mir geholfen, der Wahrheit näher zu kommen:
Solange ich die uns so natürlich scheinende Trennung zwischen uns als Subjekt und der Aussenwelt als Objekte aufrechterhalte, bin ich auch in den begrifflichen Festlegungen verankert. Es gibt dann nur mich hier – dort alle anderen, entweder - oder, Tag oder Nacht, Nebel oder Sonne. Und auch die Erlösung, Nirvana, steht so im Gegensatz zu unserer leidhaften Welt Samsara.
Aber die Sonne scheint hinter dem Nebel weiter und ich habe die Erfahrung machen dürfen, dass mein Leid viel mehr von meiner Geisteshaltung abhängt, als von scheinbar unbeeinflussbaren äusseren Bedingungen.

Um diese Geisteshaltung zu ergründen, die oft genug eher von Verwirrung gezeichnet ist, war die tiefe Erfahrung der Qualitäten meines Geistes in den Meditationen von grosser Bedeutung. Es gelang mir immer häufiger, die Aktivität des Geistes zu beobachten, wie sich Gedanken, Gefühle formen und Geräusche, innere Bilder aufscheinen lassen. Gleichzeitig wurde es mir auch möglich, das Wahrnehmen wahrzunehmen, ohne dass ich Worte brauche um das Erfahrene zu benennen.

Durch die Erfahrungen, dass Gedanken substanzlos sind, Gefühle vorhanden sind, aber keine Macht an sich haben, dass die Welt, die ausserhalb von mir zu sein scheint, im Grunde nur als Projektion oder Spiegelung meines Geistes vorhanden ist und nicht an sich da ist, wurde ich weiter bestärkt.
Wenn ich das Haften an meinem Ego und das Haften an Begriffen loslassen kann, entsteht in diesen Momenten der Meditation tatsächlich ein ganz anderes Bewusstsein in mir, der Kopf wird klarer, Müdigkeit verschwindet, die Nebel vor dem inneren Auge lichten sich – ich fühle mich wach, klar und verbunden.

Was ist nun dieser Geist, der als Spiegel für alle Erscheinungen dient und wo bleibt der Spiegel, wenn alle Anhaftungen und Verblendungen aufgelöst sind?
Ohne die innere Fähigkeit, das Spiel des Geistes zu beobachten, kann es keine Erlösung oder Erleuchtung geben! Gleichzeitig braucht es in uns auch ein subtiles Streben nach der Erkenntnis, dass das was ich denke, wie ich mein Leben organisiere, wie ich auf meine Umwelt reagiere, nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Dieses subtile Streben hatte ich ja schon sehr früh als intuitive Suche nach Sinn und Spiritualität wahrgenommen.

Den Weg dieser Erkenntnis sind andere Wesen schon immer gegangen und sie stellen uns Beschreibungen, Anleitungen und vielschichtige geschickte Mittel zur Verfügung, um diesen Weg ebenfalls gehen zu können.

Dafür, wie unser verwirrter Geist Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen produziert, die auf der Basis der uns innerwohnenden Erleuchtungsfähigkeit erfahrbar werden, gibt es im Śastra ein weiteres Gleichnis :
Die geistigen Aktivitäten von Unwissenheit werden darin als Wind beschrieben, der über den Ozean, die Soheit, streicht. Die Oberfläche wird aufgewühlt, der Wind hinterlässt Spuren auf dem Wasser, was die Gefühle und Wahrnehmungen, also die unterscheidenden Gedanken symbolisiert. Ich habe immer wieder erlebt, dass insbesondere meine negativen Gedanken und Gefühle auf diesem Ozean eine Sturmflut auslösen können, die mir und anderen schadet.
Diese Spuren vergehen, wenn der Wind sich legt, wir also z.B. in der Meditation ruhen.

Ohne Wasser gäbe es keine Spuren, hätte der Wind keine Stütze, um Wellen zu erzeugen.
Ohne Wind läge das Wasser eben ruhig da, würde den Himmel so spiegeln, so wie er ist.

Genauso verhält es sich mit dem Nichtwissen, dem Geist und den unterscheidenden Gedanken:
Die Unwissenheit hinterlässt auf der Basis der Essenz des Geistes Bewegungen/ Wellen-Spuren.
Würde die Essenz des Geistes (Wasser) aufhören zu existieren, würden die Menschen aufgehoben werden, denn ohne die Essenz gäbe es keine relative Welt, keine Phänomene und keine Erleuchtungsfähigkeit.
Die Verwirrung, die Gedanken und Gefühle und das Nichtwissen gehören aber zu der Welt der Phänomene, der relativen Ebene des Geistes. Sie entstehen bedingt und sind deshalb auch der Veränderung, bzw. dem Vergehen unterworfen.
Die Essenz, die Klare-Licht-Natur des Geistes wird niemals aufhören zu sein, sie ist ungeboren und unvergänglich und so kann das reine Wissen des Geistes weiter bestehen. Wenn sie nicht unvergänglich wäre, könnte es auch keine Erleuchtung geben.

Im Text gibt es ein Zitat dazu:
„Weil nur die Dummheit aufhört, hören die Merkmale der Dummheit des Geistes entsprechend auf. Dies bedeutet nicht, dass die Weisheit (d.h. die Essenz) des Geistes aufhört.“

Unsere Wahrnehmungen der relativen Wirklichkeit verbinden wir mit Gefühlen, Gedanken und der Idee einer isolierten Existenz. Wir nehmen dies alles im Spiegel unseres Geistes wahr und halten die Spiegelbilder für die wahre Wirklichkeit. Wir haften an dieser Vorstellung und greifen nach den Bildern und merken oft nicht, dass wir so im Leiden gefangen bleiben, ja das Leid auch selbst produzieren.
Dass es z.B. möglich ist auch körperlichen Schmerz so zu transformieren, dass ich dem nicht hilflos ausgeliefert bin, erlebe ich manchmal im Umgang mit meinen Kopfschmerzen, indem ich den Schmerzen in der Meditation liebevoll begegne. Und von verwirklichten Menschen wissen wir, dass sie noch viel schlimmere Schmerzen ertragen, ohne zu leiden.

In tiefer Verbindung mit der Weisheit, in den Momenten, in denen ich nicht hafte und greife, erlebe ich die Spiegelfunktion des Geistes, ohne daran zu leiden.

Die Funktion des Spiegelns bleibt also auch dann bestehen, wenn all unsere Verblendungen, Verwirrungen und Anhaftungen aufgelöst sind. Das ist die Spiegelgleiche Weisheit, eine der hervorragenden Qualitäten der Buddha-Natur.

Wie eingangs schon erwähnt, hatte ich versucht, mich mit graphischen Darstellungen den vielschichtigen Funktionen des Geistes anzunähern, wie sie im Śastra beschrieben sind.
Denn, in verdichteter Form werden die unterschiedlichen Aspekte systematisiert und beleuchtet. Zum Glück gibt es aber auch immer wieder „Sprachbilder“, die mir vertrauter sind und mir helfen über das Verstehen in die Erfahrung zu kommen.
Ein solches Sprachbild soll auch verdeutlichen, wie sich die zwei Aspekte durchdringen, die der EINE GEIST beinhaltet: der eine ist der Aspekt der absoluten Ordnung, dieser ist transzendent und bedeutet Nirvana, also das Erlöstsein aus dem Leiden.
Der andere ist der Aspekt der Ordnung der Erscheinungen und Phänomene, welcher zeitlich gedacht ist und Geburt, Tod und das Leid in Samsara enthält.
Diese beiden Aspekte sind nicht getrennt, sie durchdringen sich in ihrer Essenz. Der Begriff Essenz wird gebraucht, um genau das zu benennen, was sich in beiden Aspekten gleich bleibt.

Diese Durchdringung wird an dem Bild von Kleidern veranschaulicht:
an sich riechen Kleider oder Stoffe nach nichts, aber sie nehmen doch den Duft an, den wir z.B. am Morgen auflegen. So erscheint auf den Kleidern das Merkmal des Duftes, ohne dass sie aber zu dem Duft an sich werden.
Die Soheit wird in ihrem reinen Zustand von den Verwirrungen des Geistes durchduftet oder durchräuchert, wie es heisst, ohne jedoch davon verunreinigt zu werden, aber die Merkmale der Verunreinigungen, der Unwissenheit oder Verwirrungen erscheinen auf dem reinen Zustand.
Wenn die Unwissenheit von der Soheit durchdrungen wird, erhält sie einen reinigenden Einfluss und kann geläutert werden. Denn die Unwissenheit ist dem Werden und Vergehen unterworfen.

Für diesen EINEN GEIST gibt es verschiedene Begriffe, die ich auch schon genannt habe: Soheit, Klare-Licht-Natur des Geistes, Buddha-Natur, absolute Wirklichkeit, Essenz.

All diese Begriffe sind in unserem dualistischen System verankert, denn durch die Sprache, die begrifflichen Festlegungen tauschen wir uns aus, versuchen wir unsere Erfahrungen mitteilbar zu machen und realisieren kaum, dass sie fest in unserer relativen Wirklichkeit verankert sind, in der wir uns bewegen.

Genau so verhält es sich mit den Beschreibungen im Śastra, die bis in die kleinste Verästelung die verschiedenen Aspekte des Geistes systematisieren. Es werden Gleichnisse, Sprachbilder und Metaphern benutzt, die meine Phantasie anregen und mich berühren.
All diese Worte werden im Grunde gebraucht, um uns zu helfen, in die Lage zu kommen, unseren Geist zur Ruhe zu bringen, denn nur in Ruhe lässt er sich in seinen tiefen Dimensionen erfahren. So werden wir angeregt zu verstehen, um zu erfahren!
Es ist, als wenn wir mit dem Zuruf „Sei Still“ den geschwätzigen Geist zum Schweigen bringen.

Die Essenz entzieht sich unserem begrifflichen Denken. Im Grunde ist sie unbeschreiblich, wir können sie nicht festhalten, messen und wiegen oder dem anderen zeigen, sie ist leer von Allem, was wir als „etwas“ bezeichnen.

Leerheit oder leer sein sind Bezeichnungen, die in den buddhistischen Texten immer wieder gebraucht werden, und sie bedeuten – bar zu sein von Dinghaftigkeit, bar einer unabhängigen Existenz zu sein – und nicht etwa Nichts, wie dieses Wort im dualistischen System verstanden wird.

Für mich war es wesentlich, dies zu verstehen und zu erfahren, denn in den Texten wird der Geist nicht als Seins- Weise beschrieben, also mit Eigenschaften, die man hat oder nicht hat, erringen oder sich aneignen könnte, sondern in Verbindung mit Dynamik, Beziehung und Funktion!

Diese Funktionen des Geistes können nur erfahren werden, indem wir realisieren, dass wir wahrnehmen und was wir denken, was wir an Erfahrungen speichern und spiegeln können, indem wir spüren, was wir fühlen und welche Gedanken welche Gefühle auslösen können. Wenn wir dies beobachten ohne uns zu verstricken, können wir auch wahrnehmen, dass sich alle diese Phänomene unseres Geistes wandeln und wieder verschwinden können. Um uns zu verständigen, versuchen wir unsere Erfahrungen in Worte zu fassen, und werden damit der Erfahrung doch nicht wirklich gerecht.

In meiner Arbeit sind diese Funktionen ja auch gefragt: ich nehme wahr, wie es dem Klienten geht, ich verknüpfe diese Wahrnehmung mit meinen Erfahrungen, ich spiegele meine Wahrnehmung zurück und stelle ihm so die Möglichkeit zur Verfügung, sich selbst zu betrachten.
Dabei sind die Funktionen der Essenz, Weisheit, Liebe und Mitgefühl von immenser Bedeutung. Um sich selbst zu betrachten, braucht es ein mitfühlendes Gegenüber –sowohl im anderen als auch in sich selbst!
Ohne Weisheit, Liebe und Mitgefühl können wir unsere Verwirrungen und Verblendungen nicht auflösen.

Wie wir in dem Gleichnis der Kleidung und des Duftes schon gesehen haben, wird die Essenz beschrieben als leer von Verschleierungen, Verblendungen, Verwirrungen und gleichzeitig enthält sie alle Qualitäten, es heisst, sie enthalte alle hervorragenden, ausgezeichneten Qualitäten.
Hier gab es für mich wieder eine eher unscheinbare Falltür in die konventionelle Wirklichkeit, denn diese hervorragenden Qualitäten hätte ich natürlich gern, würde sie gern als etwas erringen worauf ich stolz sein könnte, um sie dann auch nicht wieder herzugeben.

Diese Qualitäten, Weisheit, Liebe und grenzenloses Mitgefühl, sind aber Funktionen des Geistes, die sich nur dann zeigen können oder in Aktion treten, wenn ich darauf verzichte, die Essenz dinglich festzumachen, sie mit Begriffen fixieren zu wollen. Nur wenn ich sie tief in mir erfahren habe, mein Vertrauen in diese Qualitäten gefestigt ist, können die Funktionen abgerufen werden und sie stellen sich auch nur dann ein, wenn sie angebracht und heilsam sind.
Ich habe dazu kürzlich eine eindrückliche Erfahrung mit einer jungen Klientin gemacht, die von ihrer Mutter geschickt wurde, weil Mutter verständlicherweise wollte, dass das Symptom einer beginnenden Essstörung bei der Tochter behandelt werden muss.
Das Vorgespräch mit der jungen Frau verlief merkwürdig, anders als ich es von mir gewohnt war. Es entstand kein wirklicher Kontakt und im Nachhinein fiel mir auf, dass ich bestimmte Fragen nicht gestellt hatte, es mir nicht in den Sinn gekommen war, augenfällige Verbindungen herzustellen. Im ersten Moment war ich entsetzt: Wo war meine Einfühlung, mein Mitgefühl geblieben, alles das worauf ich mir doch in meiner professionellen Haltung etwas einbilde, hatte ich im Kontakt mit der jungen Frau nicht zur Verfügung!
Wenn ich dieses Ereignis unter dem spirituellen Blickwinkel betrachte, werden die beiden sich durchdringenden Qualitäten der konventionellen und der absoluten Ebene deutlich:
Auf der konventionellen Ebene bin ich mit dem Ich-Ideal einer immer alles verstehenden und immer richtig intervenierenden Therapeutin verbunden und bewerte meine Handlungen unter moralischen Gesichtspunkten. Dies würde hier auch bedeuten, dass Mitgefühl haben heisst, mich unhinterfragt immer zur Verfügung zu stellen, stets um Zuwendung bemüht zu sein. Und wenn ich das nicht erfülle, stürze ich in den Abgrund der Selbstentwertung. Denn dann bin ich entweder eine gute oder eine schlechte Therapeutin.

Auf der absoluten Ebene hat sich in der Situation der Weisheitsgeist auf einer intuitiven Ebene ausgedrückt:
Die junge Frau war innerlich noch nicht bereit , ihr Symptom zu verstehen und darauf zu verzichten, sie hätte an ihrer Entwicklung nicht mitarbeiten können, denn das Symptom war für sie noch viel zu bedeutsam.
Wahrscheinlich hätte es einen fruchtlosen Kampf um lebenswichtige Pfunde an dem Mädchen gegeben, den wir möglicherweise beide verloren hätten. So war es auch nur folgerichtig, dass sie die Therapie noch nicht beginnen wollte, die Zeit war nicht reif dafür.

Manchmal setzt sich die Weisheit eben auch ohne uns durch, denn die Essenz ist nicht persönlich, sie wirkt durch uns durch.

Gleichzeitig wurde mir in der Reflektion auf den verschiedenen Ebenen aber auch klar, wie weit ich von einem wirklich befreiten Geist noch entfernt bin, denn in tiefer Verbindung mit der Weisheit, hätten mir wohl noch andere geschickte Mittel zur Verfügung gestanden, die junge Frau zu erreichen.
Diese Erkenntnis hat mich sehr berührt und ist ein wichtiges Motiv weiter unermüdlich an der Befreiung zu arbeiten, um die Weisheit zum Nutzen aller Wesen zu verwirklichen!
In den Momenten, in denen wir ohne Verblendung wahrnehmen und handeln, wir unser Ego nicht pflegen müssen oder an moralischen Werten festhalten müssen, sind wir im Kontakt mit der Buddha-Natur und haben genau die Funktionen der Weisheit selbstverständlich zur Verfügung, die in der Situation bedeutsam sind.
Solche Erfahrungen machen wir alle immer wieder, wir erleben Wesen, die uns durch eine Bemerkung, einen Handgriff oder auch durch Nicht-Handeln unerwartet hilfreich zur Seite stehen oder wir selbst lassen diese Hilfe anderen Wesen zuteil werden.

Wenn in den Śastras geschrieben steht, dass unzählige Buddhas und Bodhisattvas, deren Zahl grösser ist als die Sandkörner am Ganges, unermüdlich für die Erlösung aller Wesen unterwegs sind, ist das gemeint!

Darauf gilt es zu vertrauen!

Zum Abschluss meiner Betrachtungen möchte ich Euch einladen noch einmal in Euch hineinzuhorchen: Wie geht es Euch jetzt mit dem Vertrauen, dem Glauben?

Dem Vortrag liegen folgende Texte zugrunde:

1. Ashvaghosha
„Die Erweckung des Glaubens“
Englisches Original (Übersetzung aus dem Chinesischen)
Übersetzt und kommentiert von Yoshito S. Kakeda
Columbia University Press 1967
Aus dem Englischen übersetzt von Irmentraut Schlaffer
 Copyright Irmentraut Schlaffer, Bonn 1994

2. Meditations-Sutras des Mahāyāna-Buddhismus Band 1
Herausgegeben von Raoul von Muralt
3. Auflage 1988 Origo Verlag Bern/Schweiz

Dharmavortrag zum Abschluss des zweiten Studienabschnitts „Der Buddhismus des Mahāyāna“, 30.01.2015 im Dharmazentrum Schaffhausen

Autor/Autorin des Textes: 

Studien, Kommentare

Freiheit und Gelübde, Zuflucht nehmen

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Freiheit und Gelübde, Zuflucht nehmen

Gelübde binden

Gelübde spielen auf dem buddhistischen Weg der Geistesschulung eine grosse Rolle.
Wenn man die Lehre des Buddha selber für wahr erkannt hat, kann man in einem Ritual das Zufluchtsgelübde nehmen.
Wir geben uns selbst das Versprechen, Glück nicht mehr in vergänglichen Äusserlichkeiten zu suchen, sondern uns konsequent um die unbedingte innere Quelle des Glücks zu bemühen, die unsere eigene Buddhanatur ist. Dazu gehen wir den Weg der buddhistischen Geistesschulung. Das Bodhisattvagelübde besteht kurz gesagt darin, das auf diesem Weg erreichte, mit allen Wesen zu teilen.

Buddhistische Gelübde sollen uns nicht knebeln oder fesseln, sie sind auch nicht der Eintritt in eine buddhistische Kirche, sondern sollen uns auf unserem Befreiungsweg unterstützen. Natürlich reagieren wir auf diese Mittel mit den Assoziationen aus unserem Kulturkreis und mit den Erfahrungen aus unserem persönlichen Leben. Das löst ambivalente Gefühle aus. Was kennen wir an Gelübden? Das Beichtgelübde, das Ehegelübde, das Keuschheitsgelübde. An keinem der in unserem Kulturkreis vorkommenden Gelübde haftet der Geruch der Freiheit, im Gegenteil, Gelübde sollen binden.

Dualistischer Freiheitsbegriff

Der spirituelle Befreiungsprozess kann nur dann wirken, wenn wir uns ernst nehmen und da anknüpfen, wo wir stehen, um die Hindernisse, die wir erkannt haben, aufzulösen.
Dann erst können wir aufnehmen, wie es wirklich gemeint ist. Was sind diese Hindernisse? Unsere Gedanken und Gefühle. Wir interpretieren Gelübde nach den Vorgaben unseres dualistischen Bewusstseins – das kann nicht anders sein – und das macht uns leidend. Was sehen wir so: Eine Forderung, die von aussen an uns herangetragen wird, wir sollen etwas tun und wenn wir das nicht tun, bleiben wir aussen vor. Dagegen wehrt sich das Ego, denn hier scheint es um Macht und um Unterordnung zu gehen. Das Ego ist unsere bewährte Überlebensstrategie, es fühlt sich als Retter und Bewahrer unserer individuellen Freiheit, für die wir so lange gekämpft und gelitten haben. Es hat sich eingerichtet mit dem Unvermeidlichen und seine kleinen Fluchten und Kompensationen gefunden. Fernsehen, Gutes Essen, Wein, Hobbys, Sex, Reisen, Abenteuer, Unterhaltung, Anerkennung, Ruhm und Geld, Konsum und Besitz. Sollen wir diese bisherigen Zufluchten aufgeben, wenn wir Zuflucht zum Buddha nehmen? Das würde ja bedeuten, dass ich meine schwer errungenen Freiräume nicht mehr so füllen kann, wie ich es möchte; dass nicht mehr Ich über meine Freiheit verfüge. Hier spricht das Ego. Ein zweites Argument hält das Ego bereit: ich will mich nicht auch noch in meiner Freizeit damit unter Druck setzen, dass ich meditieren muss und ein schlechtes Gewissen haben, weil ich ein Gelübde abgelegt habe. Anstrengung und Druck erlebe ich sonst schon genug.

Dieses Ego nehmen wir jetzt innerlich an die Hand und erkennen es in seiner Angst an. Das Ego hat Angst vor Überforderung und moralischem Druck und interpretiert Freiheit als Verfügungsmacht.
Können wir das verstehen und können wir Mitgefühl mit uns haben? Wenn ja, kann der Prozess weitergehen, wenn nein, bleiben wir stecken. Der nächste Schritt ist die geduldige Untersuchung und Überprüfung unserer Vorannahmen. Buddha nannte das Wahrheitsergründung. Wir haben Angst unsere Freiheit zu verlieren, wenn wir ein buddhistisches Gelübde auf uns nehmen. Stimmt das? Wie frei sind wir überhaupt?

Eigene Erfahrung

Als ich mir in meinem eigenen Prozess diese Frage stellte, musste ich erkennen, dass meine Freiheit nur darin bestand, mich nicht zu binden. Ich wollte frei sein für das, was eventuell auf mich zukommen könnte. Diese Freiheit war nur negativ definiert. Es war schmerzlich zu erkennen, dass das Offenhalten aller Potentialitäten nur dahin führte, dass ich letztendlich von aussen bestimmt wurde: Durch Ereignisse, durch die Erwartungen anderer, durch Aufgaben, die an mich herangetragen wurden. Ich war froh und stolz all diesem entsprechen zu können, weil ich so frei und flexibel war. Mir fiel gar nicht auf, dass ich nicht mein Leben lebte, sondern mich damit identifiziert hatte, die Erwartungen anderer bestmöglich zu erfüllen.

Recht auf spirituelles Leben

So kann ich heute rückblickend sagen, dass ich mich nicht binden konnte, weil ich schon gebunden war, nämlich an das Gebot mich zur freien Verfügung zu halten. Entsprechend brisant fühlte es sich an, das Zufluchtsgelübde zu nehmen. Es war eigentlich verboten, denn ich behauptete für mich das Recht, ein Ziel anzustreben, das mich aus all diesen Konditionierungen herausführen würde. Glauben konnte ich das damals noch nicht. Aber die Sehnsucht nach Befreiung war da. Als lebendige Verkörperung dieser Möglichkeit stand meine Lehrerin Vajramala vor mir, die das Ritual leitete. Ich setzte damals ein Zeichen, warf einen Anker, um mir nicht mehr verloren zu gehen.

Die Entstehung des Zufluchtsrituals

Die psychologische Situation der Menschen zu Buddhas Zeiten war nicht so verschieden von der unsrigen heute. Das Zufluchtsgelübde ist aus der Sehnsucht der damals Suchenden entstanden, dem Buddha zu folgen. Es gab ja viele Lehrer in der damaligen Zeit. Aber in dem Menschen Siddharta Gautama erlebten und erkannten sie einen vollständig Befreiten und Erwachten. Wie wir aus den Schriften wissen, überzeugte er durch seine ganzheitliche Ausstrahlung, seine Worte und Redeweise und durch seine Weisheit. Er erkannte, was jeder brauchte, der zu ihm kam und entsprechend lehrte er.

Der Buddha sammelte keine Schüler, gründete keine Kirche, wollte niemanden missionieren, wollte auch die äussere gesellschaftliche Ordnung nicht umwälzen, wollte keine Macht, wollte keinen Ruhm und kein Geld. Sein Wirken war völlig frei von egoistischen Bestrebungen, gerade deswegen war es so Vertrauen erweckend. Nicht er hat die Zuflucht erfunden und Gelübde verlangt, sondern die, die ihm folgen wollten.

Das Zufluchtsritual entstand spontan. In den Sutren wird berichtet: wenn eine Begegnung gelungen war, der Erwachte sein Gegenüber erreicht hatte und die Belehrten erkannten, das ist es doch eigentlich, wonach ich die ganze Zeit gesucht habe, fragten sie ihn, wie kann ich damit in Kontakt bleiben, wie kann ich dein Schüler werden.
Der Buddha antwortete darauf: Ganz einfach, in dem du jetzt dreimal die Zufluchtsformel sprichst:

Ich nehme Zuflucht zum Buddha
Ich nehme Zuflucht zum Dharma
Ich nehme Zuflucht zum Sangha.

Das war vielleicht irgendwo auf dem freien Feld, ohne Zeugen und ohne Weihrauch, Blumen und Kerzen. Bis heute ist das Zufluchtsgelübde in dieser Einfachheit erhalten
geblieben. Wir können das kaum glauben. Immer wieder werde ich gefragt, ob das auch wirklich nichts Äusserliches bedeutet. Nein, es ist aus der Sehnsucht der Schüler entstanden, sich an den Buddha, der für sie das erwachte Sein verkörperte, zu binden.

Flucht oder Zuflucht

Später, als der Sangha grösser wurde und Ansehen erlangte, kamen auch noch andere Motive ins Spiel: Flucht vor der Familie, vor Pflichten, vor Strafe, vor Armut, vor Bedeutungslosigkeit, vor Krankheit. Im Sangha gab es kostenlose medizinische Betreuung und die Mönche waren sogar vor der Macht des Königs sicher. Das schadete der buddhistischen Befreiungsbewegung. Deswegen wurde der Buddha von Mitgliedern des Sanghas gebeten, Regeln zu erlassen. Er legte fest, dass junge Menschen die Erlaubnis ihrer Eltern einholen mussten, und dass Kranke und Straftäter nicht zugelassen waren. Zuflucht darf keine Flucht sein, denn dann hilft sie nicht zur Befreiung, sondern führt zur Fortsetzung des Leidens.

Ja zum Wunsch nach Befreiung

Die echte Zuflucht speist sich aus der Sehnsucht, ein freier und glücklicher Mensch zu werden. Das ist ein Funke, den wir alle in uns tragen, das ist der Buddha, die Möglichkeit des Erwachens in uns. Durch die Begegnung mit der buddhistischen Lehre wird dieser Funke zum Feuer entfacht, das ist der Dharma. Durch Menschen, die uns das vorleben, entwickeln wir Zuversicht dass das Ziel erreichbar ist, das ist der Sangha. Wir nehmen also letztendlich Zuflucht zu uns selber, indem wir Ja zu dieser Sehnsucht sagen und ihr folgen.

Als ich Lama Govinda durch seine Bücher kennenlernte, da erlebte ich dieses Ja. Als ich den Menschen im Himalaja begegnete, erlebte ich es wieder, dieses Ja. Eine buddhistische Kultur, in der Menschen freier und glücklicher leben als bei uns, ist möglich; und als ich Vajramala, die Dharmaerbin von Lama Govinda gefunden hatte, wurde es zur Gewissheit: Das ist es doch, was ich immer schon wollte. Ich will heim zu meinem wahren innersten Wesen, zu meinem befreiten Sein.

Verbote und Verführungen

Wenn wir nun das Zufluchtsgelübde erwägen und unsere ambivalenten Gefühle dazu betrachten, taucht unweigerlich die Frage auf: Darf ich das denn überhaupt? Durfte ich das je, mein befreites Sein wollen und mich so ernst und wichtig nehmen, dass ich es mit allen Mitteln anstrebe? Was sagt es dazu von Innen? Hier eine Auswahl von möglichen Kommentaren: Das ist verantwortungsloser Egoismus. Das gibt es gar nicht. Du musst Pflichten erfüllen, Du musst für mich/ die Familie/ die Kinder/ die Anderen.... da sein. Du musst ein gottgefälliges Leben voller Mühe und Arbeit führen, Befreiung und Glückseligkeit sind erst nach dem Tod zu erwarten. Diese Stimmen aus dem konventionellen Bewusstsein nennt man im Buddhismus „Mara“. Es sind Hindernisse, die dem Befreiungsprozess entgegenwirken. Als der Buddha seine Erleuchtung erlebte, traten auch Hindernisse auf. Es waren Gedanken, die ihm anboten, mit seiner All- Wissenheit nun die Welt zu beherrschen oder sich zurückzulehnen und sein Glück alleine zu geniessen.

Alle Heiligen, das heisst heil/ganz gewordenen werden auf diese Weise geprüft, das überliefern auch die abendländischen Legenden. Haben sie wirklich die Selbstentzweiung durch dualistisches Bewusstsein überwunden? Für unseren eigenen Prozess ist bedeutsam, dass der Buddha genau wie wir ein richtiger Mensch war, der mit Hindernissen zu kämpfen hatte. Er überlegt, ob es nicht zu mühsam sei, seine Weisheit mit anderen zu teilen? Da treten auf: Mara, der Herr der Finsternis, der die Freuden der Macht und des Selbstgenusses anbietet; und Saccha, der Herr des Himmels, der Götterkönig, der den Erwachten bittet, sich nicht von der Welt zurückzuziehen, sondern seine Mitwesen zu befreien. Es spielt das ewig menschliche Drama: Der Mensch Gautama Sakyamuni muss sich entscheiden, was er mit der erreichten Freiheit anfangen will. Hätte er seine Erleuchtung alleine geniessen wollen, wäre er für die Welt unschädlich geworden und wir hätten nie von dieser Befreiungslehre gehört. Wie viele beinahe Erleuchtete sind wohl so von der Weltbühne verschwunden?

Diese Geschichte ist auch für unseren eigenen Befreiungsweg bedeutsam. Wir stehen zwar nicht kurz vor der vollständigen Befreiung und Erleuchtung, erleben aber doch manchmal, besonders im Retreat einen Zipfel davon. Dann müssen wir jedesmal entscheiden, was fange ich mit dieser Erfahrung an. Geniesse ich mein befreites Sein, solange es anhält und falle dann zurück ins Leiden - oder gibt es dazu eine Alternative?

Das Bodhisattvagelübde

Es gibt diese Alternative in Form des Bodhisattvagelübdes. Es beinhaltet das Versprechen, nicht eher aufzugeben, nicht eher zu ruhen als bis vollständige Befreiung für sich selbst und für alle anderen erreicht ist. Das Bodhisattvagelübde schützt vor der egoistischen Fixierung auf die eigene Erleuchtung, es gibt unserer Übung Sinn und Ausrichtung zum Wohle des Ganzen. Es hält uns in der Bezogenheit, bewahrt uns vor dem Tod der Lebensverneinung und vor dem Gift der Isolierung. Lama Govinda hat es so ausgedrückt: Freiheit an sich ist sinnlos, wenn wir nicht wissen wofür wir frei sind. Der Bodhisattvaweg ist die natürliche Konsequenz eines undualistischen Freiheitsempfindens.

Bindung an die Treue zu sich selbst

Können wir jetzt verstehen, warum es überhaupt Gelübde braucht und welchen Sinn sie haben? Sie sind ein Versprechen, das wir uns in einem klaren Moment selbst geben. Sie sind starke Mittel, die uns auf dem Befreiungsweg halten oder zurückführen, wenn wir uns wieder verdunkeln. Gelübde wirken tatsächlich. Jeder, der versucht hat eine Ehe aufzulösen, weiss das. Im Unterschied zum Eheversprechen, binden wir uns mit buddhistischen Gelübden nicht an etwas Vergängliches, einen anderen Menschen, sondern an unsere unvergängliche Wesensnatur. Wir versprechen uns die Treue zu uns selbst:

Die Treue zu meinem wahren befreiten Wesen, das ist die Zuflucht zum Buddha
Die Treue zum Ziel der Befreiung und zum Weg dorthin, das ist die Zuflucht zum Dharma
Die Treue zur Mitmenschlichkeit, das ist die Zuflucht zum Sangha.
Und das solange, bis vollkommenes Erwachen und befreites Sein verwirklicht ist, aus Mitempfinden mit der Welt, zu meinem Wohle und zum Wohle aller anderen Wesen, das ist das Bodhisattvagelübde.

Drei Stadien der Zufluchtnahme

Solange das nur intellektuell verstanden ist, nehme ich die „äussere Zuflucht“. Wenn es zur inneren Notwendigkeit und erlebten Einsicht geworden ist, nehme ich die „innere Zuflucht“. Wenn ich zu meiner wahren Natur erwacht bin, nehme ich die „geheime Zuflucht“. Ich erlebe und erkenne, dass ich in Wahrheit nie von meiner wahren Buddhanatur getrennt war - und das war mir bisher verborgen. Alle Stadien der Zufluchtnahme sind erforderlich, keine kann übersprungen werden.

Permanente Übung

„Zuflucht nehmen“ ist also kein einmaliges Geschehen, sondern ein dynamischer Prozess, eine ständige Übung. Im Zufluchtsgebet heisst es: Bis ich das Wesen der Erleuchtung verwirklichen kann, nehme ich Zuflucht. Konkret bedeutet das, immer wenn ich abgelenkt, zerstreut und aus meiner Mitte herausgefallen bin, merke ich das und wende mich entschlossen der Meditation zu. Ich ergreife jede Gelegenheit, um meinen Geist in Wahrnehmung, Mitempfinden, Ruhe und Einsicht zu schulen und zwar mit allen Mitteln, die mir schon zur Verfügung stehen. Buddha, Dharma und Sangha unterstützen mich. So geschieht ein spiritueller Reifungsprozess, der zu wahrem Glück und vollständiger Befreiung führt.
Vortrag gehalten zum Dharmaworkshop am 23. August 2015

© Ute Volmerg, alle Rechte vorbehalten
Autorin: Sita Vajramati

Autor/Autorin des Textes: 

Unterschiedliche Denkweisen in Ost und West

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Vortrag gehalten anlässlich der Feier zum 120. Geburtstags Lama Govindas am 30.9.18 in Zalaszanto, Ungarn

Wenn Menschen, wie wir, die im westlichen Denken zuhause sind, Buddhismus studieren, werden sie zunächst ganz spontan auf ihre eigenen Denk- und Interpretationsschemata zurückgreifen, um sich zu erklären, was gemeint sein könnte. Das birgt die Gefahr von Irrtümern und Missverständnissen. Man meint buddhistische Begriffe zu verstehen, weil die Worte bekannt sind, aber sie bezeichnen etwas anderes. Sie stehen in einem kulturell und philosophisch ganz anders geprägten Bedeutungskontext, den wir im Westen nicht automatisch mitdenken können. Und so kommen wir auch gar nicht auf die Idee, dass es anders gemeint sein könnte als wir es verstehen. Umgekehrt - buddhistische Lehrer aus dem asiatischen Kulturkreis haben manchmal keine Ahnung davon, wie falsch wir etwas auffassen, von dem sie meinen, dass es doch sonnenklar sei. Auf diese Weise sind schon viele Irrwege beschritten worden.

Auf meinem Weg zur Buddhistin war das eine schmerzliche Begleitmusik und deshalb habe ich beide Systeme gründlich studiert um als Übersetzerin tätig sein zu können.
Heute bin ich Leiterin eines Meditationszentrums, buddhistische Lehrerin, Konfliktberaterin und Coach für Führungskräfte in freier Praxis in Schaffhausen, seit nunmehr über zwanzig Jahren.

Ein Gedankenexperiment

In meinem Vortrag möchte ich an einem Beispiel herausarbeiten wie unterschiedlich das Verstehen ist, je nachdem ob ich Begriffe im westlich-christlichen oder im östlich-buddhistischen System interpretiere.

Es ist mir ein Anliegen, dass Sie mit einer lebendigen Erfahrung nach Hause gehen, deshalb möchte ich Sie bitten sich auf eine Reihe von Gedankenexperimente einzulassen.

Ich lese ihnen jetzt eine Aussage des Dalai Lama vor, zunächst die erste Hälfte und bitte Sie den angefangenen Satz ganz spontan zu vollenden. Schreiben Sie auf, was Ihnen als Fortsetzung des Satzes einfällt. Im zweiten Schritt lese ich Ihnen vor wie der Dalai Lama den Satz fortsetzt.

„Wir können ohne die anderen nicht glücklich sein. Darum müssen wir...“

Bitte vervollständigen Sie den Satz nun mit ihren eigenen Worten und schreiben sie es für sich auf.

Nun lese ich den zweiten Teil des Satzes vor und bitte Sie, Ihre Schlussfolgerung mit der Empfehlung des Dalai Lamas zu vergleichen.

„Wir können ohne die anderen nicht glücklich sein. Darum müssen wir...“

„..unseren Geist darin üben zu erkennen, dass er nicht getrennt von anderen existiert.“

Ich hoffe Sie sind genauso verblüfft wie ich. Ich habe dieses Experiment im Selbstversuch auch gemacht, um meinen westlichen Denkmustern auf die Spur zu kommen. Wenn ich unbuddhistisch denke, dann schliesse ich aus der Erkenntnis, dass ich ohne die anderen nicht glücklich sein kann, dass ich mich um meine Beziehungen kümmern muss.

Die östlich- buddhistische Sichtweise, die aus der Aussage des Dalai Lamas spricht, verweist mich auf eine tiefere Wahrheit: Wir können ohne die anderen nicht glücklich sein, weil wir gar nicht getrennt von anderen existieren.

An diesem Beispiel lassen sich die Unterschiede zwischen dem westlich-christlichen und dem östlich-buddhistischen Denksystem gut veranschaulichen.

Im westlich-christlichen System
- geht die Bewegung nach aussen (instinktiv überprüfe ich mein Beziehungsnetz)
- sie ist objektivierend, (wo könnte ein Problem bestehen)
- und analytisch differenzierend (woran könnte es liegen)
- und aktiv Problem lösend (was sollte ich unternehmen)

Im östlich-buddhistischen System
- geht die Bewegung nach Innen (ich muss den Geist üben, zu erkennen )
- weg von der äusseren Tatsache (wir können ohne die anderen nicht glücklich sein)
- hin zu ihrem universellen Grund (wir existieren gar nicht getrennt)
- statt Problembeseitigung durch äussere Aktivität
- geht es um ein tieferes Erkennen
- und um geistige Übung,
- mit dem Zweck, das individuelle Erleben mit der universellen Wahrheit in Übereinstimmung zu bringen.

Daraus folgt mit Notwendigkeit: Ich muss meinen Geist darin üben, die Wahrheit zu erkennen, dass er gar nicht getrennt von anderen existiert.

Fünf Prämissen

Diese Belehrung des Dalai Lama enthält eine Reihe von buddhistischen Prämissen, die unserem westlichen Denken fremd sind.

Prämisse Nr. 1: Wir müssen unseren Geist üben zu erkennen.
Dahinter steht die Erkenntnis des Buddha, dass alles vom Geist ausgeht, primär von Innen bewirkt wird und nicht von Aussen: Unser Glück und unser Unglück. Diese Sichtweise ist für westliche Menschen ungewöhnlich. Wir denken nach dem Verursacherprinzip, isolieren Faktoren, um sie gezielt beeinflussen zu können. Soziale Ungleichheit, Ungerechtigkeit, Krankheit, Klimawandel, Marktprobleme, Flüchtlingskrise, Naturkatastrophen – alles soll von Innen bewirkt sein und vom Geist ausgehen? Das klingt nach „selber schuld“. Ist das nicht eine unzulässige Subjektivierung objektiv gegebener, strukturell verursachter Konflikte?

Das Missverständnis liegt an dem Wort Geist. Geist meint im Buddhismus nicht das was wir im Westen darunter verstehen: Denken, Intellekt. Geist ist die Bezeichnung für das unfassbare Medium all unserer Wahrnehmungen, Gefühle, Gedanken und Handlungen.
Locker ausgedrückt: Geist ist im Buddhismus nicht assoziiert mit: Denken, Kopf, Oben, Ideal, Himmel, Gott - sondern mit: Innen, Zentrum, Universalität, Verbundenheit, Ganzheit, Herz, mit unserem tiefsten Sein.

Unseren Geist üben, heisst dann nicht eine neue Theorie zu lernen sondern unser tiefstes Erleben zu verändern und zwar dadurch dass wir unseren Geist im Erkennen üben.
Und was soll er erkennen? nicht dieses oder jenes, oder die Schuldigen, oder eine soziale Theorie, sondern etwas ganz Offensichtliches eine universelle Tatsache. Er soll erkennen: dass er nicht getrennt von anderen existiert.

Prämisse Nr. 2: es gibt gar nichts getrennt Existierendes
Nach der buddhistischen Lehre gibt es überhaupt nichts, das getrennt für sich alleine existieren würde. Wir denken und fühlen uns zwar getrennt von anderen und versuchen auch so zu leben. Aber wenn man tiefer schaut, wird man zu einer anderen Erkenntnis kommen. Es ist gar nicht möglich getrennt von anderen zu existieren. Wir atmen alle dieselbe Luft, haben denselben Heimatplaneten und sind auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen. Die Globalisierung zeigt uns das immer deutlicher.
Wenn wir trotzdem versuchen, ohne die anderen glücklich zu sein, kann uns das nicht gelingen, weil die existentiellen Bedingungen das gar nicht zulassen. Wir sind von einander abhängig ob wir das wollen oder nicht. Das untersteht nicht unserem Willen. Die Wahrheit ist immer und überall dieselbe: Alles was existiert ist wechselseitig voneinander abhängig und auch nur durch gegenseitige Einwirkung entstanden.

Prämisse Nr. 3: Wir können nicht glücklich sein, weil wir die Wahrheit nicht erkennen
Umgekehrt: Wenn wir sie erkennen würden, könnte unser Leiden aufhören. Darum müssen wir unseren Geist im Erkennen der Wahrheit üben. Unser Unglück kommt also daher, dass unser Denken nicht mit dem übereinstimmt, wie es wirklich ist. Was ist wirklich? Was ist die Wahrheit? Im Westlichen Denksystem verstehen wir darunter entweder einen Gegenstand der Wissenschaft den man mit objektivierenden Methoden beweisen kann, oder etwas Höheres, für das die Religion zuständig ist, das man glauben muss.
Buddha hat sich konsequent sein ganzes Leben lang jeglicher metaphysischen Spekulation enthalten und das tut auch der Dalai Lama. Im Buddhismus wird unter Wahrheit etwas anderes verstanden. Wahrheit wird durch Vertiefung gefunden. Im Erleuchtungserlebnis wurde der Buddha allwissend. Nicht im Sinne enzyklopädischer Gelehrsamkeit sondern in bezug auf drei Aspekte die er das dreifache wahre Wissen nannte.

Das erste war die Wahrheit der Nichtdauer
Nichts dauert weder Subjekt noch Objekt, weder Geist, noch Seele, noch Materie – es gibt Kontinuität durch Wandel aber keine bleibende Substanz, die sich wandelt.

Das zweite war die Wahrheit abhängigen Entstehens
Es ist alles aufeinander bezogen, bedingt sich und verändert sich wechselseitig nach der Gesetzmässigkeit von Ursache und Wirkung

Das dritte war die Wahrheit von der Entstehung des Leidens durch das Nichterkennen der Wahren Wirklichkeit.

Unter Wahrheit werden im Buddhismus die fundamentalen Tatsachen des Lebens verstanden, die überall und zu allen Zeiten dieselben sind und die jedermann und jede Frau erkennen kann. Wahr ist, was universell gültig ist. Eine solche fundamentale wahre Wirklichkeit ist unsere gegenseitige Abhängigkeit, auf die der Dalai Lama verweist und diese Wahrheit gilt es zu erkennen. Was heisst erkennen?

Prämisse Nr. 4: Erkennen muss geübt werden.
Im Westen ist Erkennen gleichbedeutend mit begrifflichem Verstehen, es ist das Resultat einer intellektuellen Anstrengung. Der Ort der damit assoziiert wird ist das Gehirn. Im östlich-buddhistischen Verständnis ist Erkennen eine Sache des Herzens, der Introspektion und Intuition, unter Beteiligung aber nicht unter Vorherrschaft des Intellekts. Die Grenzen begrifflichen Denkens müssen überschritten werden. Erst das kann zu tiefem Erleben führen, das den ganzen Menschen ergreift und wandelt. Auch bei uns ist ja wechselseitige Abhängigkeit und globale Vernetzung längst erkannt, aber eben ohne dass sich der destruktive Umgang mit uns selbst und unseren Lebensgrundlagen verändert hätte. Buddhistisch gesehen liegt das daran, dass es nicht tief genug erkannt ist, wir wissen es nur begrifflich, nicht mit dem ganzen Sein, sonst könnten wir uns gar nicht mehr so destruktiv gegenüber dem Leben verhalten wie wir das tun.

Deshalb sagt der Dalai Lama: Diese Art des Erkennens muss geübt werden, auch von Buddhisten, von allen Menschen
- dann sind wir weder einsam und unglücklich noch
- können wir weiter unsere Lebensgrundlagen schädigen, weil wir mit unserem tiefsten Selbsterhaltungsinteresse als Einzelwesen und als Gattung Mensch verbunden sind.

Prämisse Nr. 5: Daher geschieht tiefgreifend wirksame Veränderung
durch geistige Übung
Auch das ist für westliche Denkgewohnheiten schwer akzeptable. Warum? Bei Veränderung denken wir an durchgreifende Lösungsstrategien auf der politischen Handlungsebene, die mit Macht durchgesetzt werden müssen. Geistige Übung braucht im Westen die Befreiung von der Welt. Dagegen: Politisches Handeln und geistige Übung sind im Buddhismus nicht als Gegensätze konzeptionalisiert. Das zeigt uns das umfassende Engagement des Dalai Lama. Mehr noch: Nach buddhistischer Überzeugung wird Handeln nur dann fruchtbar sein, wenn es durch geistige Übung mit der Weisheit des Lebens in Übereinstimmung gebracht ist.
Wenn westliche Menschen diese ganzheitliche Sichtweise nicht mitdenken, scheint ihnen der Buddhistische Zugang, mit geistiger Übung die Welt verändern zu wollen, unpolitisch idealistisch und beschränkt.

Zusammenfassung

Das westliche Deutungssystem beruht auf der Annahme einer Getrenntheit von Subjekt und Objekt, unsere Denkgewohnheiten folgen einer dualen Logik. Der Mensch steht der Schöpfung gegenüber, die er sich im Auftrag des christlichen Gottes untertan machen soll.
So sind wir seit 2000 Jahren christlich abendländisch geprägt, auch wenn wir an die Bibel nicht glauben. Das bedingt ein gespaltenes Verhältnis zu unserer Natur, das heisst sowohl zu unserem Körper als auch zu unseren natürlichen Lebensgrundlagen. Der sogenannte Geist hat seine ursprüngliche Verbindung mit dem Boden verloren. – Er schwebt über den Wassern und über der Erde - Materie ist sein Objekt, zu dem er in eine funktionale Beziehung tritt.

Im buddhistischen Deutungssystem wird Wirklichkeit ganz anders als ein Zusammenwirken von Kräften verstanden. Wirklichkeit gestaltet sich in jedem Moment neu, sie ist prinzipiell offen und unabgeschlossen. Strenggenommen gibt es überhaupt kein Sein – als etwas Statisches. Es gibt nur Werden. Wo nur dynamische Prozesses wirklich sind, kann es keinen Dualismus geben, sondern nur Bezogenheit in einem prinzipiell unabgeschlossenen Kontinuum. Alle Dinge sind in einem vorübergehenden Zustand. Es gibt Verschiedenheit:
Subjekt und Objekt, Geist und Materie, Leben und Tod sind nicht dasselbe aber in bezug auf ihre wahre grundlegende Existenzweise unterscheiden sie sich nicht: Sie sind alle nicht von Dauer und existieren nur in gegenseitiger Abhängigkeit.

Ich hoffe ich konnte Ihnen vermitteln, dass christlich-abendländisches und östlich-buddhistisches Denken sehr verschiedenen Logiken folgen. Das buddhistische System ist nondual und nicht theistisch. Das abendländische System ist dualistisch und theistisch. Das gilt es nicht zu bewerten, sondern im Bewusstsein zu halten. Wenn wir als Abendländer buddhistische Lehren hören ist es ganz normal, dass wir sie zunächst in unserem Denksystem auffassen. Wir verstehen sie als blosse Theorie und Ideologie, die man glauben kann oder nicht. Oder wir empfinden sie als eine moralische Anforderung, der wir folgen müssen, um ein guter Mensch zu sein – auf jeden Fall als etwas, das von aussen auf uns zu kommt. Für einen in Asien geborenen praktizierenden Buddhisten sind seine Anschauungen dagegen lebendige Erfahrung und westliche Sichtweisen blosse Theorie, bzw. unerleuchtetes Denken.

Schädliche Auswirkungen

Wenn wir Abendländer vom Buddhismus lernen wollen müssen wir also die Verschiedenheit der Deutungssysteme berücksichtigen. Wie schädlich sich das auswirkt, wenn wir das nicht tun, möchte ich zum Schluss an einem weiteren Beispiel verdeutlichen.

Es gibt eine viel zitierte Äusserung Shantidevas, eines indischen Gelehrten des 8. Jahrhunderts, die besagt:

Alles Glück kommt von der Sorge um das Wohl der anderen und alles Leid kommt von der Sorge um mein eigenes Wohl.

Christlich abendländisch verstanden hört sich das an wie eine Aufforderung zu noch mehr Spaltung, zu noch mehr Selbstverleugnung und Selbstverzicht.. Statt die Gleichheit aller Wesen zu assozieren, schliesst im westlich dualistischen Denken die Sorge um das eigene Wohl das der anderen aus. Um ein guter Mensch zu sein muss ich daher das eigene Wohl opfern. Die buddhistischen Worte berühren den Archetyp des heroischen Selbstopfers, das sich in moralischer Überhebung über das eigene Leiden und das Leiden der Welt in höheren Sphären ein Denkmal setzt. Das ist nicht Buddhas und auch nicht Shantidevas Lehre.

Im Westen wirkt sich dieses Missverständnis vor allem für solche Menschen schädlich aus, die im Recht auf ihr eigenes Wohl missachtet und misshandelt worden sind und die ihr Leiden dadurch kompensieren, dass sie sich für das Wohl anderer einsetzen. Sie helfen anderen anstatt sich selber zu helfen, spalten damit das eigene Leiden ab und finden ersatzweise Trost und Wert im Bemühen ein Ideal zu erfüllen. Der Buddhismus hilft dann zur ideologischen Begründung an der Spaltung zwischen dem eigenen Wohl und dem Wohl der anderen festzuhalten.

Gemeint ist es anders, der buddhistischen Weisheit Shantidevas liegt dieselbe nonduale Logik zugrunde wie der Äusserung des Dalai Lamas.
Ich kann ohne die anderen nicht glücklich sein, weil ich gar nicht getrennt von anderen existiere, wenn ich dann nur für mein eigenes Wohl sorge wird das Leiden bewirken.
Aber wenn ich nur für das Wohl der anderen sorge wird das auch Leiden bewirken.
Deshalb muss ich meinen Geist darin üben, diese Wahrheit zu erkennen.

Leider kennen buddhistische Lehrer aus dem östlichen Kulturraum unsere westlichen Prägungen zu wenig, um der Gefahr so missverstanden zu werden, begegnen zu können.

Ich würde mir sehr wünschen, dass buddhistische Lehrer und ihre Schüler die unterschiedlichen Voraussetzungen berücksichtigen würden, die für das Verständnis der Lehre des Buddha im Osten und im Westen gegeben sind.

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Negativität

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Negativität
Was wir aus Missbrauch lernen können
von Sita Vajramati
Wer sich mit der eigenen Negativität auseinandersetzen will, braucht Mut. Denn eigentlich darf man das als spirituell Praktizierende nicht haben. Wenn doch, so hat man nicht erfolgreich oder nicht genug praktiziert und muss sich mehr anstrengen. Sicher wird man das aus Angst vor einer moralischen Verurteilung nicht veröffentlichen.

Ich selbst praktiziere seit über dreissig Jahren Meditation. Nach ungefähr der Hälfte der Zeit stiess ich in einem Handbuch für die Praxis der Mahamudra auf einen Satz, der mich wie ein Blitz traf. Da war zu lesen: bei der in der Meditation angestrebten Gedankenfreiheit handelt es sich zumeist um gedankenfreie Nichterkenntnis, hinter der sich Negativität verbirgt, ohne jeglichen spirituellen Wert.

Mit anderen Worten: Die Gedankenfreiheit in der Meditation kommt dadurch zustande, dass ich meine Wahrnehmung blockiere und infolgedessen nichts erkenne – eben auch nicht das Negative – was zu einer freudlosen, unlebendigen Leerheitserfahrung führt, die Viele für das Ziel der Meditation halten: eben jene gedankenfreie Nichterkenntnis ohne jeglichen spirituellen Wert.

Zwei Fragen ergeben sich daraus: warum haben wir das nötig? Und: Hat der Buddha das so gelehrt? Die erste Frage lässt sich einfach und klar beantworten: Wir haben es nötig, weil wir uns vor dem Negativen in uns und um uns herum schützen wollen. Wir haben Angst, es würde uns überwältigen, überfordern und hilflos machen. Es gibt einfach zuviel davon. In der Meditation suchen wir eine Insel der Ruhe, um uns von unserem Getriebensein zu erholen. Das gilt es festzustellen ohne jede Beurteilung.

Wenn in unserer Geistesruhe dann doch etwas Negatives auftaucht, was sich nicht unterdrücken lässt, zweifeln wir an uns: Jetzt praktiziere ich schon solange und immer noch...ich bin unfähig, ...ich mache es nicht richtig... ich brauche eine andere Methode, eine andere Schule, einen anderen Lehrer, eine andere Lehrerin. Wir verlieren die Freude am Weg und die Freude an uns selbst. Wir fühlen uns ständig bedroht. Wir suchen auf altbekannten Wegen nach Erleichterung, was die Selbstzweifel verstärkt.

Leiden durch die Identifikation mit dem Ideal

Dieses Leiden ist dadurch bedingt, dass wir uns mit dem Positiven identifiziert haben, um uns vor dem Negativen zu schützen. Wenn das nicht funktioniert, erleben wir eine Krise. Es ist sehr wichtig zu verstehen, wie unausweichlich die Dynamik ist: Wenn es mich vor meinem eigenen moralischen Urteil nur als positives Wesen geben darf, darf es mich als negatives Wesen nicht geben. Deshalb muss ich alles was mich daran erinnern könnte aus meinem Bewusstsein ausschliessen. Die Möglichkeit der Selbstidealisierung beruht auf Abspaltung und Verdrängung. Das eine ist nicht ohne das andere zu haben. Es ist als würde jemand einen Teil von sich amputieren, nur damit der andere makellos bleibt.

Die buddhistische Welt wird zur Zeit von zwei Missbrauchsfällen erschüttert. Hochgeehrte Persönlichkeiten, wie der Zen-Priester Genpo Döring und der buddhistische Meister Sogyal Rinpoche haben sich unethisch und verletzend verhalten. Ihnen wird Gewalt, Vorteilsnahme und sexueller Missbrauch nachgewiesen.

Wie ist das möglich? Ist doch das oberste buddhistische Gebot Leben nicht zu verletzen? Haben sie nicht richtig oder nicht genug praktiziert? Das darf doch einfach nicht wahr sein! Doch es ist wahr und es ist das Ergebnis eines Praktizierens, das sich selbst idealisiert und sich in Bezug auf das eigene Negative unbewusst macht. Dementsprechend sind die Beschuldigten völlig unfähig, sich mit dem Schaden den sie angerichtet haben, auseinanderzusetzen und die Verantwortung dafür zu übernehmen. Das erfährt man aus ihren Reaktionen. Die Ich-Identifikation mit dem spirituellen Ideal macht blind, taub und dumm. Buddha nannte das Verblendung.

Welche Konsequenzen ziehen wir daraus für uns? Können wir die Erschütterung nutzen, um unser eigenes Praktizieren zu überprüfen und was können wir daraus lernen?
Wenn klar ist, dass die Ich-Identifikation mit dem Idealen ins Leiden führt, weil wir mit dem Unidealen nicht umgehen können, müssen wir doch genau das lernen.

Der Buddha hat dazu klare Anweisungen gegeben, die auf einer vollständigen Durchdringung der Wurzelursachen des sogenannten „Negativen“ beruhen.
Jede Art von Ich-Konstruktion und Ich-Identifikation auch die mit dem „Guten“ – dem spirituellen Ideal - hat Negativität zur Grundlage: Sie macht sich das Gute zu eigen. Sie schliesst das Gegenteil aus, und macht sich unbewusst in Bezug auf die ganze Wahrheit. Diese drei Geistesgifte, Gier, Hass und Verblendung, hat der Buddha als die Wurzeln des Leidens beschrieben; in unserer Terminologie: Haben-wollen, nicht–haben-wollen und nicht-wissen-wollen. Die Ich-Behauptung auf der Basis eines jeglichen Konstrukts: nur das bin ich, und das bin ich nicht, beruht auf einem Akt der Aversion. Diese aversive Aktivität findet nicht nur einmal statt, sondern fortlaufend, solange wir den Glauben an unsere separate Ichheit, ob positiv oder negativ definiert, aufrechterhalten müssen.

Was ist Aversion – wie üben wir mit Aversion?

Aversion ist kein Gefühl sondern eine negative geistige Haltung. Sie schränkt unsere Bewusstseinfähigkeit ein und vergiftet unser Denken und Fühlen. Aversion ist mentaler Hass, er motiviert Aktivitäten des Abweisens, Ablehnens und Verfolgens. Mentaler Hass ist in der Regel unbewusst. Wir können ihn aber körperlich an Kopfschmerzen, Muskelverspannungen, Kälte, hohem Blutdruck und flacher Atmung spüren. Emotional fühlen wir uns genervt, ungeduldig und freudlos. Im Schweizerdeutsch gibt es den treffenden Ausdruck: hässig. Fühlen und Wahrnehmen sind eingeschränkt. Wir bewegen uns hektisch, sind vergesslich und unfallgefährdet. Wir sind in Gefahr uns selbst und andere zu verletzen. Unbewusst leiden wir. Wenn wir das bemerken, werden wir in der Regel ärgerlich. Wir suchen nach Erklärungen und nach Schuldigen. Der Ärger kann sich gegen uns selbst und gegen andere richten. Sein Ziel ist immer Beseitigung. Entweder das Problem, den anderen oder notfalls uns selbst. Unbewusst reagieren wir auf Aversion mit Aversion. Das kann sich bis zum Suizid steigern.
Um dieses Leiden zu beenden, braucht es die Entschlossenheit, sich aus dem Gefängnis seiner Ich-Anhaftung zu befreien. Der erste Schritt dazu ist, bereit zu sein, die Symptome überhaupt wahrzunehmen. Anders kann eine Übungspraxis nicht beginnen. Im Satipatthana Sutra lehrt der Buddha das Gewahrsein der Geistesgifte.

Nachdem wir die Symptome bemerkt haben hören wir auf, rationale Erklärungen dafür zu suchen. Stattdessen richten wir das Gewahrsein auf unseren energetischen Zustand. Wir erleben unsere Verkrampfung direkt ohne sie zu beurteilen und ohne nach ihrer Berechtigung zu fragen. Wir spüren hinein, wir durchdringen den aversiven Zustand mit Wahrnehmung. Wir schauen nicht von aussen, sondern wir begeben uns mitten in diese negative Empfindung hinein. Wir fragen uns, ob das liebevoll akzeptierend geschehen kann und versuchen es. Wir nehmen den Atem zu Hilfe, um die Empfindung zu energetisieren und beim Ausatmen zu entspannen. Dadurch kann die Lebensenergie wieder ins Fliessen kommen. Die Verkrampfung wird sich lösen. Die Weisheit des Herzens erhält eine Chance, zu uns zu sprechen.

Angst vor Gefühlen

Da Aversion ein Schutz ist, der uns vor vermeintlich Unerträglichem bewahren soll, haben wir vor seiner Auflösung Angst. Das gilt es nicht zu beurteilen, sondern ist ein Überlebensreflex, den wir ernst nehmen müssen. In der Tat fluten ohne die Barriere unserer Ich-Abtrennung alle Wahrnehmungen in unser Bewusstsein sowohl von Innen als auch von Aussen. Um das zulassen zu können müssen wir vorher wissen, wie wir damit umgehen können. Auch hier gibt das Satipatthana Sutra konkrete Anweisungen und Hilfen. Der Buddha lehrt uns Gefühlsgewahrsein.

Wenn wir das ernsthaft praktizieren wollen, wird sich sehr wahrscheinlich ein Widerstand einstellen. Wir alle haben bereits eine Geschichte mit Gefühlen. Sie ist davon geprägt, was wir in der Kindheit erlebt haben und wie unsere Eltern mit unseren Gefühlsäusserungen umgegangen sind. Wenn wir gelernt hätten alle Gefühle zu fühlen, könnten wir auf die Aversion verzichten. So ist es nicht. Abwehren müssen wir, weil wir uns bedroht fühlen, zum Beispiel von Angst, Wut, Ohnmacht oder Schmerz. Für manche Menschen ist aber auch Glück und Freude schwierig, wenn sie nicht ins Ich-Konstrukt passen.

Der Widerstand gegen das Gewahrwerden der Gefühle könnte sich etwa in folgenden Gedanken äussern. Wozu soll es gut sein, sich auf Gefühle einzulassen? Dadurch wird es nur schwieriger; Hilfe und Verständnis gibt es sowieso nicht. Ich werde sicher abgelehnt.
Damit kann man mich ja nicht gern haben. Und zum Schluss muss ich mich sowieso anpassen.

Die Abwehr überwinden

Wie können wir diese Abwehr überwinden? Wir müssen vom Sinn des Fühlens überzeugt sein. Wir brauchen liebevolle Wahrnehmung statt Ablehnung. Wir brauchen konkrete Unterstützung.

Was ist der Sinn des Fühlens? Gefühle sind Weisheitsenergie, sie sind unsere spontane emotionale Antwort auf das Leben. Die Möglichkeit zu fühlen ist angeboren und gehört zur menschlichen Grundausstattung. Gefühle orientieren uns im Dienst des Überlebens.
Freude, Angst, Trauer, Wut, Ekel und Scham sind Affekte, die schon in frühester Kindheit spontan auftreten. Sie wirklich als Gefühl zu fühlen und ins Bewusstsein zu nehmen muss allerdings erlernt werden. Dafür braucht der werdende Mensch die Unterstützung eines erwachsenen mitfühlenden Wesens, das die emotionale Energie aufnimmt, mit Sprache versieht und zurück spiegelt. Nur auf diese Weise verlieren die spontanen emotionalen Affekt für das Kind ihre Bedrohlichkeit und werden handhabbar.

Auch im erwachsenen Alter können die Affekte in besonders kritischen Situationen spontan ausgelöst werden. Sie behalten zeitlebens ihren archaischen Charakter. Im Alltagsleben bleiben sie normalerweise unterschwellig. Aber sie bewirken emotionale Wellen an der Oberfläche unseres Bewusstseins, die wir als angenehm oder unangenehm erfahren. Wir müssen also zwei Ebenen unterscheiden: Die Ebene der primären affektiven Reaktionen auf Ereignisse und die Ebene der sekundären emotionalen Bewertung unseres Erlebens. Eine Erfahrung kann sich für uns entweder angenehm oder unangenehm anfühlen. Die emotionale Bewertung ist noch nicht das Gefühl, sie ist ein Entscheidungskriterium dafür, ob wir es zulassen wollen oder nicht. Und das geschieht in der Regel unbewusst. Auf diese Art sortieren wir Gedanken, Wahrnehmungen und eben auch die primären Gefühle. Wir müssen uns also bewusst entscheiden die Filteraktivität unseres mentalen und emotionalen Bewusstseins zu lockern, wenn wir an die primären Gefühle herankommen wollen. Wie kann das gehen?

Anleitung zu Gefühlsgewahrsein

Im ersten Schritt müssen wir die Aversion wahrnehmen und entspannen, dann hilft die Frage weiter: Wie fühle ich mich mit mir selbst: angenehm oder unangenehm? Die Antwort muss erfahren und nicht erdacht werden. Auf diese Weise vermeiden wir die Rationalisierung. Dann werden tiefere Dimensionen des Fühlens zugänglich. Die primären Emotionen können erlebt und in ihrer Bedingtheit verstanden werden. Dabei geht es nicht um berechtigte oder unberechtigte Gründe sondern um das lebendige Erleben unseres gesamten emotionalen Zustands. Der Buddha hat in vielen Sutras die Frage eindeutig beantwortet, was mit Gefühlen geschehen muss. Ein angenehmes Gefühl muss als angenehm, ein schmerzliches Gefühl muss als schmerzlich gefühlt werden. Das sind keine sprachlichen Floskeln. Gefühle müssen als solche gefühlt werden und sich in unserem eigenen Bewusstsein ausdrücken dürfen, dann werden sie sich verändern. Weil wir mit uns selbst mitfühlen, wird sich unser Herz öffnen und die Weisheitsenergie wird ins Fliessen kommen. Sie wird uns mitteilen, was zu tun ist.

Gefühlsgewahrsein ist ein Schritt auf dem Weg der buddhistischen Geistesschulung, der Übung erfordert. Nach und nach können wir Bedrohliches integrieren, wir müssen es nicht länger zwanghaft nach aussen projizieren und durch Aversion in Schach halten.

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Das Ego heilen

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Das Ego heilen

Wenn wir uns mit dem Ego beschäftigen, können zwiespältige Empfindungen aufkommen. Es stehen uns Personen vor Augen, die ein grosses Geltungsbedürfnis haben und im Mittelpunkt stehen müssen, die nur sich selbst sehen und blind für die anderen sind. Auf den zweiten Blick fallen uns vielleicht auch Menschen ein, die das Umgekehrte tun. Sie beanspruchen nichts für sich, sind immer nur für die anderen da, fühlen sich für alles zuständig und verantwortlich und entschuldigen sich ständig. Auch diese Menschen kreisen eigentlich um sich selbst, obwohl es ganz anders aussieht.

Wenn wir dann auf uns selbst schauen, stellen wir vielleicht mit Schrecken fest, dass wir auch Beachtung wünschen, etwas gelten und bedeuten wollen, und gar nicht so bescheiden sind, wie es unser spirituelles Entwicklungsideal verlangt. Das lassen wir sicher niemanden merken, sondern üben uns verstärkt im Loslassen unserer Ansprüche. Leider nützt das nichts, die abgewiesenen Bedürfnisse kommen bei der nächsten Gelegenheit wieder qualvoll zum Vorschein. Weil wir uns nicht so haben wollen, wie wir sind (Ablehnung, Hass), stattdessen spiritueller, fortgeschrittener, gelassener, weniger ichbezogen sein wollen (Begehren), leiden wir an uns selbst, an „unserem Ego“.

Den Knoten verstehen

Der ganze Sinn der buddhistischen Praxis ist, Leiden und die Identifikation mit dem Leiden zu beenden. Hierzu zeigt der Buddha den Weg. Er hielt seinem Schüler Ananda einen Schal vor Augen, in den er fünf Knoten geknüpft hatte, um ihm zu demonstrieren, dass man einen Knoten genau untersuchen muss, bevor man ihn aufkriegt. Man kann nicht einfach daran ziehen, man muss wissen, wie er geknüpft ist. Das „Ego“ ist ein solcher Knoten in unserem Geist und unserem gesamten psychophysischen Organismus.

Zunächst bedarf es der begrifflichen Eingrenzung. Nicht alles was ichbezogen ist, ist auch egoistisch. Das Ich ist von seiner Funktion her betrachtet ein notwendiges Bezugszentrum, das die Flut der Sinneserfahrungen bündelt, koordiniert und auswertet, damit wir als Individuum an dieser Welt teilnehmen und mit anderen Individuen in Beziehung treten können. Das „Ego“ ist etwas Anderes: es ist starr, zwanghaft, fühlt sich in unserem subjektiven Erleben wie ein Fremdkörper an und agiert auch gegen unseren Willen.

Um das zu verstehen, ist es nötig, Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie heranzuziehen. Ein Kleinkind hat noch kein „Ego“. Es erlebt sich und die Welt noch als undifferenzierte Ganzheit. Es kann weder sich selbst noch seine Mutter als Individuum erkennen. Der Körper ist zwar schon ausgebildet aber die Psyche noch nicht. Das ist erst mit drei Jahren der Fall, solange braucht es, bis auch die psychische Geburt des Menschen vollendet ist. In dieser Zeit ist das neue Wesen extrem abhängig, äusserst verletzlich und absolut auf seine Eltern angewiesen. Gerade deshalb müssen seine Bedürfnisse Vorrang haben. Es scheint als habe der Säugling alle Macht über das Leben seiner Eltern, aber zugleich hat er auch alle Ohnmacht, weil er sich allein nicht helfen kann.

Frühkindlicher Narzissmus

Dieses Entwicklungsstadium des Menschen wird daher „primärer Narzissmus“ genannt. Dieser Narzissmus hat nichts mit dem zu tun, was wir landläufig unter dem Narzissmus von Erwachsenen verstehen: eine eitle Selbstverliebtheit. Die ersten drei Monate werden nur deshalb „primärer Narzissmus“ genannt, weil sich alles um den bedürftigen Säugling dreht und drehen muss, sonst bliebe er nicht am Leben. Die Erfüllung dieses Narzissmus ist die Grundlage gesunden Wachstums und die Basis für die spätere Entwicklung von Selbstliebe, Selbstachtung und Urvertrauen.

Wenn alles gut geht, sind die Eltern in der Lage, auf die absolute Bedürftigkeit des Kindes liebevoll und angemessen einzugehen und auf eigene andere Interessen zu verzichten. Wenn nicht, erlebt das Kind lebensbedrohlichen Stress. Das beeinflusst die ganze weitere Persönlichkeitsbildung. Warum? In dieser frühen Phase wird das Selbstempfinden geprägt, das heisst, die Art und Weise wie man sich selbst erfährt und subjektiv empfindet. Es wird auch gleichzeitig das Verhältnis zum Leben und zum Dasein geprägt, denn Subjekt und Objekt, Selbst und Welt sind noch ungeschieden.

Es werden die Samen gelegt für das körperliche und für das emotionale Selbstempfinden. Das werdende Wesen kann noch nicht sagen, das bin ich und das bin ich nicht. Die psychische, innere Welt mit der Möglichkeit, sich zu distanzieren und Erfahrungen zu verarbeiten ist noch nicht vorhanden. Sie bildet sich ja erst und so ist das Kind auf Gedeih und Verderb seinen Eltern ausgeliefert. Wenn sie seine Bedürfnisse nach Nahrung, Aufmerksamkeit, Gehaltensein, Trost und Anregung liebevoll erfüllen können, wenn sie seine Lebensäusserungen spiegeln und beantworten, dann bildet sich ein positives Selbstempfinden. Wenn nicht, geschieht das Gegenteil. Eine unangemessene, vernachlässigende, falsche oder überfordernde Liebe verursacht Schmerzen, die im noch undifferenzierten Organismus als überwältigend erlebt werden. Daraus resultiert ein fragiles, unsicheres, bedrohtes negatives Selbstempfinden. Leben und Daseinmüssen werden zur Qual.

Grundschmerzen

Die frühen Verletzungen werden als Grundschmerzen dem Organismus eingeprägt, mit ihnen müssen wir uns ein Leben lang auseinandersetzen. Alle Menschen haben mehr oder weniger solche Grundschmerzen. Weil unsere Eltern keine allwissenden Buddhas waren, sondern auch ihrerseits durch Verletzungen und Unwissenheit in ihrer Liebesfähigkeit eingeschränkt waren. Buddha formuliert das in seiner ersten edlen Wahrheit: die Wahrheit vom Leiden. Aber auch wenn die Grundschmerzen einerseits zur karmischen Bedingtheit des Menschseins „Geburt ist Leiden...“ dazu gehören, gibt es andererseits doch grosse Unterschiede in ihrem Ausmass und den psychischen Möglichkeiten, ihnen zu begegnen.

Wie geht es dann weiter? Wie ist es möglich, dass wir trotz existentieller Bedrohtheit am Anfang unseres Lebens halbwegs fröhliche Menschen werden? Fassen wir noch einmal zusammen: Am Anfang erlebt das werdende Wesen existentiellen Stress und ist seinen Spannungszuständen hilflos ausgeliefert. Wenn seine Eltern sie schnell und wirksam lindern können, fühlt sich das Kind genährt, gehalten, getröstet und bestätigt. Wenn nicht macht es die Erfahrung, ihrer Liebe nicht wert zu sein. In diesem ganz frühen undifferenzierten Stadium heisst das, vernichtet zu werden. Die meisten Menschen haben beides erfahren und beide
Erlebnisweisen gespeichert – in unterschiedlicher Gewichtung.

Die Kunst zu Überleben

Mit den nächsten Reifungsschritten lernt der werdende Mensch, zwischen sich und anderen zu unterscheiden. Er lernt Ja sagen und Nein sagen. Damit entsteht die Möglichkeit, einen Teil des eigenen Erlebens von sich abzutrennen und einen Graben zwischen sich und lebensbedrohlichen Vernichtungsgefühlen zu ziehen. Gleichzeitig wächst der Handlungsspielraum. Das Kind kann etwas tun, um sich die Liebe seiner Eltern durch besondere Anstrengungen vielleicht doch noch zu verdienen. Beide Massnahmen, Abspaltung und kompensatorisches Bemühen, beweisen die Überlebensfähigkeit des Kindes und sind in dem Sinne gesund - wenn auch mit schädigenden Folgen. Denn im weiteren Verlauf der individuellen Entwicklung identifiziert sich das Kind nun mit seinen Überlebensstrategien und verliert den Zugang zu seinen wahren Gefühlen. So entsteht das Ego. Wir können es nun verstehen als einen misslungenen Selbstheilungsversuch mit dem Ziel, einen unerträglichen Mangel an wahrnehmender, wertschätzender, liebevoller Beachtung zu überwinden. Das Ego ist wie eine Kapsel um eine offene Wunde, die darin aber nicht heilen kann, weil die Luft nicht dran kommt.

Warum muss dieser Selbstheilungsversuch misslingen?

Weil das Ego ein Notmechanismus ist, hat es zwanghaften Charakter und verhindert dadurch, dass heilende, wirkliche Bezogenheit erfahren werden kann. Ständig nur um sich selbst kreisend, fügt es anderen zu, was ihm selbst zugefügt wurde und setzt dadurch das Leiden fort.

Die abgespaltenen Vernichtungs- und Wertlosigkeitsgefühle werden aus der emotionalen Reifung ausgeschlossen und bleiben auf frühkindlichem Entwicklungsniveau stehen. Es braucht viel Energie, um sie in Schach zu halten und doch gelingt das nicht ganz, denn wenn die Überlebensstrategien versagen, dringen die Gefühle doch schmerzhaft ins Bewusstsein und dann in archaischer Form.

Das Ego kann nicht wachsen. Anstatt mit seinem lebendigen organisch wachsenden schöpferischen Dasein, identifiziert sich der Menschen mit einer Anzahl kompensatorischer Ersatzmechanismen, die nur auf das psychische Überleben ausgerichtet sind.

Wie kann das Ego geheilt werden?

Dem Ego einfach geben, was es an Bestätigung, Bewunderung oder Unterstützung verlangt, heilt nicht. Warum? Weil die abgespaltenen Grundgefühle unberührt bleiben. Es ist dann wie bei einem Fass ohne Boden. Wenn wir aber zutiefst verstehen, was das Ego ist, haben wir schon den ersten Schritt zur Heilung getan. Dann können wir den Knoten lösen. Es liegt an uns, dieses Wissen zur Anwendung zu bringen.

Was ist zu tun? Statt zu erwarten, dass unsere Defizite von aussen gefüllt werden, können wir uns entschlossen selbst darum kümmern. Wir können uns selbst das liebevolle Wahrnehmen unseres Daseins und Soseins zukommen lassen, das wir vielleicht vermisst haben. Wir können unsere Bedürfnisse ernst nehmen und uns um ihre Erfüllung bemühen. Wir können unserem Leben Wert, Sinn und Bedeutung verleihen. Das ist etwas anderes, als qualvoll um sich selbst zu kreisen. Buddha lehrt uns dazu die Praxis der Meditation. Richtig verstanden und ausgeführt, hilft sie nach und nach alle Schichten unseres Erlebens mit Bewusstsein zu durchdringen. Dadurch kann man sich selbst vollständig transparent werden und wird notgedrungen auf alle Hindernisse stossen, die den Fluss des Lebens blockieren.

Es ist gefährlich, ohne kundige Anleitung zu meditieren, allzu leicht wird spirituelle Übung zu einer weiteren Überlebensstrategie und die Grundschmerzen bleiben davon unberührt. Dann fühlt man sich vielleicht wertvoll und bedeutend, weil man praktiziert, einer Schule angehört oder einem bestimmten Lehrer folgt, aber wahrer Wert ist das noch nicht. Es ist wieder dasselbe, weil man sich besonders anstrengt, hat man sich etwas verdient.

Am Anfang des Weges geht es gar nicht anders, wir haben ja nur das Ego, sind aber geleitet von unserer Sehnsucht nach wahrer Liebe, wahrem Sinn und wahrer Wirklichkeit. Durch Meditation kommen wir dieser Dimension näher und können beglückende neue Daseins-Erfahrungen machen. Hier tut sich die nächste Falle auf, man könnte es dabei bewenden lassen und Meditation als zeitweise Erholung vom Ego missverstehen. Ohne kundige Begleitung kommt man über diese Schwelle nicht hinweg. Warum nicht? Das Ego ist als psychischer Selbstschutz vor unerträglichen existentiellen Schmerzen organisiert, diesen Schutz können wir nicht einfach loslassen, ohne etwas anderes zu haben. Hierin liegt die eigentliche Bedeutung des spirituellen Freundes/der Freundin und des Sangha. In manchen Fällen ist eine psychotherapeutische Begleitung unabdingbar. Erst im Schutz einer verfügbaren nicht egozentrierten Liebe können wir die Begegnung mit dem eigenen Leiden wagen. Zu Zeiten des Buddha gab es in ihm eine solche Persönlichkeit, heute können wir uns an ihn erinnern und zu seiner Lehre Zuflucht nehmen. Dennoch brauchen auch wir Heutigen die lebendige Erfahrung einer heilenden und haltenden Beziehung, in der wir unsere Grundschmerzen zulassen und uns neu der Liebe wert erfahren können.

Bleibt zu fragen: ist eigentlich das Ego und das, was Buddha mit Ich-Illusion und Ich-Wahn bezeichnete, dasselbe? Den Schriften zufolge ist mit den beiden Begriffen etwas ganz Grundsätzliches gemeint: Die irrige Annahme, dass wir als einzelne Menschenwesen getrennt von allem anderen existieren; dass wir uns mit unserem jeweiligen Zustand identifizieren und glauben, er sei unveränderbar; dass wir uns als eine fixe Gegebenheit empfinden. Das alles entspricht nicht der wahren Wirklichkeit und wird deshalb als wahnhaft bezeichnet. Wir machen uns Illusionen über uns und die Welt, das meint „Ich-Illusion“. Objektiv betrachtet, gibt es uns weder als getrennt noch als unwandelbar, da wir es aber trotzdem so erleben, bestimmt es unsere subjektive Wirklichkeit. Das Ego ist die psychische Struktur, die dieser Erlebnisweise zugrunde liegt.

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Spirituelle Entwicklungschancen in der Partnerschaft

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Spirituelle Entwicklungschancen in der Partnerschaft

„Es ist besser, geliebt und gelitten zu haben, als nie ein Liebender gewesen zu sein.“
Lama Govinda

Wenn man ernsthaft praktiziert, kommt man früher oder später an der Frage vorbei: wie steht es mit meiner Partnerschaft, ist sie förderlich oder hinderlich für den spirituellen Entwicklungsweg? Es kann auch die Angst aufkommen, den Partner zu verlieren, weil er oder sie andere Interessen hat und ein Entfremdungsprozess einsetzt. Oder es entstehen Aggressionen, weil der Partner immer wieder negative Verhaltensmuster aktiviert, die man schon überwunden glaubte. Aber auch Menschen, die alleine leben, fragen sich nach einer Weile des Praktizierens, ob sie sich nicht sozial isolieren und wertvolle Freundschaften verlieren. Umgekehrt gibt es, auch wenn Partner in derselben Richtung buddhistisch praktizieren, keine Garantie dafür, dass die Verbindung hält.

Als Leiterin eines Meditationszentrums sind mir diese Fragen vertraut, ich finde sie normal und wichtig. Auf meinem persönlichen Weg habe ich mich auch damit auseinandersetzen müssen. Da ich über zwei Jahrzehnte hinweg intensiv praktiziere und nicht Nonne bin, kenne ich die verschiedensten Zustände der Liebesbeziehung aus eigener Erfahrung: verliebt, verlobt, verheiratet, getrennt, geschieden, - lebe ich heute zwar alleine aber bezogener den je. Die Herausforderungen, achtsam in Beziehung zu sein, sind dieselben geblieben und die Freuden und Leiden der Paardynamik können sich auch in Freundschaften jederzeit wieder einspielen.

Was ist Paarbeziehung und was passiert mit der Liebe, wenn zwei Menschen länger als Paar zusammenleben? Das will ich im Folgenden untersuchen. Es kann helfen, sich nicht mehr als Opfer einer scheinbar unverständlichen Eigendynamik zu erleben, sondern ihre tiefere, innere Logik zu verstehen. Nur so können die Entwicklungschancen, die in dieser Lebensform liegen, bewusst wahrgenommen werden. Nichts geschieht einfach zufällig, sondern alles hat seine innewohnenden Gesetzmässigkeiten – lehrt der Buddha - so auch die Veränderungen in unseren Paarbeziehungen. Um diese zu erfassen, muss man genau hinschauen: Wie und warum bilden sich eigentliche Paare?

Die Paarbildung beruht auf dem Prinzip der Ähnlichkeit. Was ähnlich ist, zieht sich an. Menschen finden sich, verlieben sich und wählen einander als Partner, weil sie sich gegenseitig erkennen. Das ist keine äussere oder oberflächliche Ähnlichkeit, sondern eine tiefe zunächst unerklärliche Empfindung, einander zu verstehen, zueinander zu passen und füreinander bestimmt zu sein. Die Verständigung geschieht müheloser als mit anderen auch ohne viele Worte. Jeder gibt mit Liebe und Freude, das was er kann, und lässt die Unstimmigkeiten erst einmal beiseite. Die Erfahrung des Glücks der Übereinstimmung oder wechselseitigen Ergänzung ist so stark, dass sie alles andere in den Schatten stellt. Die Quadratur des Kreises scheint gelungen. Im Vertrauen auf diese Möglichkeiten entwickelt das Paar gemeinsame Ziele und Interessen und riskiert es vielleicht, den Bund fürs Leben zu schliessen.

In den Märchenbüchern hört hier die Geschichte mit der Salomonischen Formel :“und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute“ auf. In der Realität beginnt aber früher oder später nach dem Höhepunkt des Glücks der Abstieg und weil es dafür keine Anleitung gibt, endet die Liebe nicht selten mit dem Tod der Paarbeziehung und führt nicht in eine Transformation. Das ist traurig und beängstigend zugleich und löst in der Regel eine Reihe von Gegenmassnahmen und Rettungsversuchen aus. Sie wären wirkungsvoller, wenn sich das Paar dem stellen könnte, was tatsächlich passiert.

Und was passiert eigentlich? Die Partnerwahl aufgrund unerklärlicher Anziehung hat ihre Rückseite. Es sind eben nicht nur die hellen Seiten des Paares ähnlich, sondern auch die dunklen. Wenn Interessen, Wünsche, Lebensmotive, Eigenschaften, Einstellungen und Verhaltensweisen zweier Menschen zueinander passen, dann auch die Erfahrungen, aus denen heraus sie geboren und entwickelt wurden. Partner wählen einander- das ist zunächst unbewusst- auch aufgrund ähnlicher Verletzungen und existenzieller Grundschmerzen. Sie sind anfangs fasziniert von den Überlebenstechniken, die der jeweils andere entwickelt hat, und erhoffen sich davon auch für sich neue Möglichkeiten. Die unerklärliche Anziehung hat ja zumeist hierin ihren Grund: in der beglückenden Erfahrung tiefer seelischer Übereinstimmung und der darauf gegründeten Hoffnung, einander durch die Liebe heilen zu können.

Das geht auch eine Weile gut, doch dann sind tiefere Entwicklungsprozesse angesagt. Ob sich das Paar diesen stellen kann, ist entscheidend für seinen Fortbestand. Was das heissen kann, möchte ich an einem Beispiel erläutern. Ich nenne die beiden Hans und Lene, die eines Tages in meine Beratungspraxis kamen, und um professionelle Hilfe in ihrer Ehekrise baten. Sie seien mit ihren Möglichkeiten am Ende. Die Ausweglosigkeit hatte sich bei beiden auch körperlich gezeigt: bei ihr erkrankte die Lunge, bei ihm der Rücken. Das Leiden hatte beide zum Nachdenken gebracht, sodass jeder für sich eine Einzeltherapie begonnen hatte. Daran konnten wir nun anknüpfen. Lene schilderte wie ihr durch die Krankheit zu Bewusstsein gekommen sei, dass sie in den Jahren ihrer Beziehung nicht nur für sich, sondern auch für ihn mitgelebt habe, um seine Unlebendigkeit auszugleichen. Jetzt sei sie ausgebrannt und könne nichts mehr geben. Hans war durch sein Leiden klar geworden, dass er gar nicht lebendig sein durfte und lediglich im Funktionieren eine Daseinsberechtigung hatte. So wie beide ihre Geschichte schildern, fällt mir beim Zuhören auf, wie sehr Lene sich auch aktuell noch um ihn sorgt und seine Perspektive übernimmt. Hans scheint von dieser Zuwendung in keiner Weise berührt zu sein, obwohl er grosse Angst vor einer Trennung äussert. Er wirkt auf mich kalt und abweisend. An dieser Widersprüchlichkeit ansetzend, beginnen wir mit dem Ergründen der tieferen Motive.

Folgendes wird offenbar: Hans hatte eine überfürsorgliche Mutter, für die er genauso funktionieren musste, wie sie es vorsah. Er kam als eigenes Wesen mit eigenen Gedanken und Gefühlen nicht vor. Seine Lebendigkeit war aus der Beziehung ausgeschlossen. Er machte es der Mutter recht, wenn er sich äusserlich anpasste und keine Emotionen darüber erkennen liess. Er hatte in seiner Ursprungsfamilie einen paradoxen Liebesbegriff gelernt: Beziehung gibt es für mich nur, wenn es mich nicht gibt. Er verhält sich in der aktuellen Situation also seiner Prägung entsprechend richtig: er nimmt hin, was seine Partnerin für ihn meint, ohne ihr Resonanz zu geben oder etwas Eigenes zu zeigen. Dadurch wirkt er so kalt und unlebendig.

Lene ist in ihrer Ursprungsfamilie komplementär geprägt worden. Bei Spannungen im Familienklima zog sich der Vater in eisiges Schweigen zurück . Es war seine Form, zu bestrafen und Ansprüche geltend zu machen, wenn die Dinge nicht so liefen, wie er es wollte. Darunter litten seine Frau und die Kinder. Lene erhielt dann regelmässig von der Mutter den Auftrag, den Vater wieder zum Reden zu bringen. Das gelang ihr auch. Sie musste also im Dienste der Mutter ihre eigene Lebendigkeit dem Vater zur Verfügung stellen. Das hatte sie als Grundregel verinnerlicht, so durfte sie leben und lieben und zu diesem Preis durfte sie an Beziehungen teilhaben. Sie erlitt die Eifersucht der Mutter und sexuellen Missbrauch durch den Vater. Auch sie verhält sich also ihrem gelernten Liebesbegriff entsprechend korrekt als sie im aktuellen Paargespräch nicht an sich, sondern zuerst daran denkt, wie schlimm eine Trennung für ihren Mann wäre.

Wenn wir jetzt beides zusammensehen, wird deutlich, wie genau die gelernten Beziehungsmuster zu einander passen und wie tragisch sie einander ergänzen und herausfordern, sodass jeder in seiner Rolle fixiert bleibt. Jeder tut das, was ursprünglich als Liebesleistung von ihm verlangt worden war - meint es also gut mit dem anderen - und gleichzeitig fügen die Partner einander erneut die alten Verletzungen zu. Als ob zwei Ketten mit einem automatischen Schnappschloss versehen seien. Das macht ohnmächtig, verzweifelt und aggressiv und die Trennungsabsichten der beiden werden nachvollziehbar. Wir spüren aber auch, welcher Grundschmerz bei aller Verschiedenheit die Partner in der Tiefe verbindet: beide hatten kein Recht auf eine eigene Existenzweise, sie wurden nie um ihrer selbst willen geliebt, sondern für die Zwecke von Vater oder Mutter missbraucht und im Eigenen vernichtet.

Es ist eine Gesetzmässigkeit, dass wir von unseren Eltern die Liebe lernen. Sie sind nun einmal unsere ersten Liebes- und Beziehungspartner und geben uns das weiter, was sie selbst gelernt haben. Ein kleines Kind kann ohne seine Eltern nicht leben und wird alles lernen, was zu tun ist, um an die lebensnotwendige Zuwendung zu kommen. Das prägt unser Erleben und unser Verhalten in emotional abhängigen Beziehungen für das ganze Leben, auch wenn später noch andere Möglichkeiten dazu gelernt werden. Es ist sozusagen unser implizites Beziehungswissen, das besonders dann abgerufen wird, wenn die Verliebtheit in einer Partnerschaft vorbei ist und existenzielle Schwierigkeiten auftauchen. Dann werden die Überlebensgrundmuster aktiviert und es wird immer schlimmer statt besser. In dieser Phase kam das Paar in meine Beratung.

Ohne Kinder hätten sie sich vielleicht getrennt, wie viele es tun, die dann das Heil in einer neuen Partnerschaft suchen. - Es nützt nichts, da die Partnerwahl auf seelischer, buddhistisch ausgedrückt, karmischer Verwandtschaft beruht, landet man früher oder später mit dem neuen Partner am selben Punkt. Stattdessen möchte ich hier Mut machen, die Entwicklungschancen zu nutzen, die in der Paardynamik liegen. Die Liebesverletzungen und die Grenzen des eigenen Liebesvermögens werden erfahren und so offenbar. Und hierin liegt die spirituelle Herausforderung, eine tiefere Liebe zu entwickeln und einander tatsächlich noch durch die Liebe zu heilen.

Der erste Schritt dazu ist, einander nicht mehr zu benutzen, um die Grundschmerzen abzuwehren. Denn so funktionieren stillschweigend die meisten Beziehungen: Wenn Du es mir ersparst, dass ich meinem Leiden begegnen muss, dann liebe ich Dich. Insofern hatte die oben geschilderte Rollenverteilung zwischen Hans und Lene auch ihren stabilisierenden Nutzen für beide. Jeder konnte das weiterleben und anwenden, was er gelernt hatte, und sich dabei gebraucht fühlen. Das ist auf die Dauer keine Lösung. Dann wird die Paardynamik zu einem Hindernis für die spirituelle Entwicklung und das Leiden wiederholt. Die Lösung ist, sich diesen Grundschmerzen zuzuwenden. Liebevolles
Gewahrsein und Wahrhaftigkeit mit sich selbst sind erforderlich, um sie ins Bewusstsein zu holen. In einem zweiten Schritt können sich die Partner einander mitteilen und sich in gegenseitigem Verstehen und Mitfühlen üben. Das wird nur gelingen, wenn jeder Versuch, den anderen für die Ursachen oder die Lösung verantwortlich zu machen, unterbleibt und jeder ganz für sich selbst einsteht. In einem dritten Schritt könnte das Paar zu einem neuen Sinn und einem neuen Ziel des Zusammenlebens finden: Wie können wir unsere Verletzungen und Begrenzungen bewusst in die Liebe einbeziehen. Wie können wir - statt uns gegenseitig in lebensfeindliche Muster hineinzuzwingen – zusammenarbeiten, um uns daraus zu befreien.

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Krankheit als Pfad

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1. Die gesellschaftsstrukturellen Vorbedingungen
Krankheit spiegelt uns die Tatsache wieder, dass wir aus dem Gleichgewicht geraten sind. Darauf reagieren wir mit Gedanken, Worten und Taten. In unserer westlichen Welt gibt es dafür bestimmte Schemata, die wir verinnerlicht haben. Oberste Priorität hat die rasche Wiederherstellung der Funktionalität im Dienste ununterbrochener Verfügbarkeit und Beherrschbarkeit (unserer Körper sowie der Natur). Dafür gibt es das Gesundheitssystem und die Pharmaindustrie. Dies alles beinhaltet - bewusst oder unbewusst - eine ablehnende Haltung gegenüber Krankheit. Damit sind wir dem kranken Menschen, uns selber gegenüber, negativ eingestellt. Auch wir möchten möglichst schnell wieder über uns verfügen. So können wir nicht auf dem Pfad bleiben.

Um bei Krankheit auf dem Pfad bleiben zu können, darf man sich mit Krankheit weder identifizieren, noch sie ablehnen, vielmehr gilt es, sie als Gelegenheit wahrzunehmen, die spirituelle Übungspraxis zu intensivieren. In den Schriften heisst es:
- durch Krankheit werden Schleier gereinigt,
- Qualitäten werden hervorgebracht und
- deine Erkenntnis wird vertieft.

2. Der erste Schritt muss also sein, die vorhandene Haltung gegenüber meiner Krankheit ehrlich zu überprüfen: Wie geht es mir mit meinem Kranksein? Bin ich genervt, gestresst, ablehnend meiner Krankheit gegenüber? Will ich sie möglichst schnell weg haben? Bin ich verzweifelt, ohnmächtig, wütend, dass nichts hilft, oder dass ich schon wieder krank bin? Was ist meine geistige Haltung, was denke ich darüber? Wen oder was mache ich verantwortlich? Was sind meine Theorien und Konstruktionen, um mir die Krankheit zu erklären. Wie handele ich gegenüber meiner Krankheit: Bekämpfe ich die Symptome? Richte ich mich vorwiegend nach aussen und renne von einem Arzt, von einem Behandlungstermin zum anderen? Versuche ich die Krankheit zu ignorieren oder zu verleugnen und mache einfach weiter wie bisher? Quäle ich mich mit Fragen, warum trifft es mich? Oder mit Schuldzuschreibungen, was habe ich falsch gemacht? Leide ich tapfer und still vor mich hin? Oder ergreife ich energisch Gegenmassnahmen?

All dies gilt es nur ehrlich festzustellen, auch damit sind wir auf dem Pfad. Wir üben das Gewahrsein unserer Gefühle, Gedanken und Handlungsmuster, nicht um uns zu kritisieren, sondern um unser Gefangensein aufzulösen. Wie geht das? Dazu brauchen wir die buddhistische Sicht.

3. Die buddhistische Sicht
Es gibt nichts, das separat für sich alleine existieren würde, weder Gesundheit noch Krankheit. Gesundheit können wir nicht besitzen, Krankheit aber auch nicht. Deshalb ist Krankheit weder ein Persönlichkeitsmerkmal, noch ist sie ein blinder Zufall oder Schicksalsschlag, der mich wie aus heiterem Himmel getroffen hat, obwohl vorher alles in Ordnung war. Alles Entstandene ist aus bereits vorhandenen Bedingungen entstanden. Diese „meine Krankheit“(körperliches, psychisches, mentales Kranksein und Leiden) hat sich tatsächlich aus früheren Bedingungen heraus entwickelt und tritt jetzt unabweisbar zu tage. Alles Entstandene ist aber auch dem Vergehen unterworfen. So wie meine Gesundheit vergangen ist, so wird auch meine Krankheit vergehen. Sie vergeht, wenn die verursachenden Bedingungen aufgehoben werden, deshalb nützt alle Symptombekämpfung nur vorübergehend.

Das Leben – und auch mein individuelles Leben - hat die Fähigkeit, sich an seine Umwelt anzupassen, zu wachsen, sich zu regenerieren und im Gleichgewicht zu bleiben. Um sich zu regenerieren braucht das Leben Geburt und Tod und auch Krankheit. z.B. Fieber, Kinderkrankheiten u. a. Es gibt Krankheiten, die situativ bedingt sind und so auch wieder vergehen z. B. eine Lebensmittelvergiftung. Und es gibt Krankheiten, die karmisch bedingt sind. Alle Krankheiten haben Ursachen aber eine Grippe ist etwas anderes als eine Autoimmunkrankheit. Wir können mit allen Krankheiten üben, weil wir im unerleuchteten Zustand am Leiden, das die Krankheit verursacht, haften. Dieses geistige Haften verhindert oder erschwert die Heilung. In der Übung gilt es, das Haften zu erkennen und zu überwinden.

Karmisch bedingt heisst, dass die Krankheit durch menschliches Fehlverhalten gegenüber dem Leben verursacht wurde. Wenn wir in verblendeter Selbstüberschätzung die nötigen Schutzmassnahmen für das Leben versäumen, ist eine Grippe oder ein Unfall auch karmisch bedingt. Buddha hat die Wurzel dieses Fehlverhaltens in unserer Verblendung gefunden. Wir sind verblendet durch den Glauben an unser Ego, dessen Interessen wir glauben dienen zu müssen Deshalb sehen wir nicht, was das Leben braucht, was wir selbst und die anderen wirklich brauchen, um gesund zu bleiben. Auf die Erhaltung unseres Egos fixiert, können wir die Kostbarkeit des Lebens nicht erkennen. So fügen wir - in bewusster oder unbewusster Absicht - uns selbst und anderen Verletzungen zu. Das ist in der Vergangenheit geschehen durch uns selbst, durch unsere Eltern und unsere Vorgänger und deshalb erleben wir zwangsläufig heute die Folgen in Form von Krankheit. Manchmal liegen die ursächlichen Verletzungen so weit zurück, dass man sie nicht mehr erkennen kann. Deshalb ist in der Übung Vertiefung nötig.

Diese Betrachtungen sind eine Vorraussetzung dafür, sich mit vollem Ernst auf die Übung einlassen zu können. Sonst wirkt sie nicht. Dadurch übernehmen wir Verantwortung für das Leben und tun einen ersten Schritt, um unser jetziges Haften an den Konzepten unseres Egos aufzulösen. In der Regel ist das die Identifikation mit dem leidenden Opfer. Diese aufzugeben, und sich statt dessen - ohne die Spaltung in Täter und Opfer und ohne die Konzepte von Schuld, Sühne, Sünde und Strafe - auf die Suche nach Wahrheit zu begeben, ist nicht leicht. Sie führt uns zu einer nächsten Konfrontation: Wozu bin ich überhaupt unterwegs? Was ist Sinn und Ziel meines Lebens? Wofür will ich die mir verbleibende Kraft und Zeit einsetzen? Wenn man schwer erkrankt ist und sich für Therapien entscheiden muss (z.B. Operationen, Chemotherapie), sind diese Fragen sowieso unausweichlich.

Mit diesen Vorüberlegungen können wir verstehen, wenn es in den Schriften heisst, man soll Krankheit nicht ablehnen, sondern darin eine willkommene Gelegenheit sehen, altes negatives Karma zu beenden. Karma ist beendet, wenn wir unser verletzendes krankmachendes Denken, Fühlen und Verhalten beenden können und insofern keine neuen Ursachen für Leiden erschaffen. Das ist sehr schwer und erfordert grosses Mitgefühl, tiefes Schauen, Vertrauen und Hingabe. Das trainieren wir, wenn wir Krankheit zum Pfad machen.

4. Vertrauen und Hingabe haben wir noch nicht, weil wir noch keine positiven Erfahrungen mit der Übung gemacht haben. Da bleibt uns nichts anderes übrig, als auf alle die zu vertrauen, die vor uns diesen Weg gegangen sind. Buddhistisch Praktizierende nehmen Bezug auf Buddha, die grossen spirituellen Meister, ihre Lehrer in der Gegenwart, grosse Wesen, die uns ein Beispiel geben (z.B. Dalai Lama). Praktizierende anderer Religionen beziehen sich auf menschliche Wesen ihrer Traditionen. Alle können wir uns auf universelle Kräfte beziehen, deren Präsenz wir sicher schon einmal im Leben gespürt haben und die uns umgeben (Bodhisattvas, Schutzengel..)

5. Die nächsten Schritte
Wenn wir ernsthaft erkrankt sind, psychische oder körperliche Schmerzen haben, kreist unser Denken um diese Empfindungen, wir fühlen uns hilflos und ausgeliefert. Dies ist der fruchtbare Moment, in dem wir uns ganz bewusst zur Übung entschliessen. Wir begeben uns mit genügend Zeit an einen geschützten Ort, wo wir nicht gestört werden.
Wir ziehen unsere Aufmerksamkeit von den Symptomen ab und denken intensiv an Menschen, LehrerInnen und Vorbilder. Das heisst, wir nehmen geistig Kontakt zu hilfreichen Kräften auf, deren Wirken wir schon erfahren haben und die uns mit Vertrauen erfüllen. Wir rufen unseren inneren Heiler/Weisheitsgeist an.

Wir bitten all diese Kräfte um Segen und Unterstützung für unsere Praxis.
Traditionell heisst die Formel:
Gebt Euren Segen, dass diese Krankheit ein Teil meines Weges wird
Gebt Euren Segen, dass ich sie weder leugne noch bestätige
Gebt Euren Segen, dass ich sie als Helfer erlebe

Diese Bitte gilt es mit Inbrunst und Hingabe zu spüren, zu sprechen und zu wiederholen, das öffnet das Herz. Damit verankern wir unseren leidfixierten Geist in heilsamer Bezogenheit und spiritueller Geborgenheit, um im Leid, das wir uns im nächsten Praxisschritt anschauen, nicht unter zu gehen.

Normalerweise denken wir an unsere eigene Heilung, wir analysieren die Ursachen unserer Krankheit und gehen zum Arzt oder zur Therapie, um für uns selbst Heilung zu finden. Damit bleiben wir in der Enge unserer Selbstbezogenheit gefangen, das blockiert die tiefere Heilung. Statt dessen machen wir uns klar, dass es unzählige Wesen gibt, die an derselben oder einer ähnlichen Krankheit leiden wie wir. Das stellen wir uns richtig vor. Nicht um unser Leiden zu relativieren, sondern, um unser Herz zu weiten. Dadurch entsteht grösseres Mitgefühl. Vielleicht fällt es uns schwer, überhaupt für uns selbst Mitgefühl zu haben, aber wenn wir an unsere Mitwesen denken, denen es genauso wie uns geht, kann die Entfaltung grossen Mitgefühls in Gang kommen, indem wir ja dann auch aufgehoben sind. Wir kontemplieren also immer wieder den Gedanken

Wie bemitleidenswert sind alle Wesen, die von derselben Krankheit gequält werden wie ich.

Es geht nicht darum, sich deren Leid auch noch aufzuladen.Es geht auch nicht darum, das eigene Leid zu verleugnen und statt dessen das Leid anderer zu fühlen. Es geht darum, unser Herz zu öffnen für die Wahrheit des Leidens. Bei ernsthaftem Praktizieren werden wir erfahren, wie wir mit einer universellen Schwingung von umfassender Liebe und Barmherzigkeit in Kontakt kommen, die keine Emotion ist. Im Buddhismus wird sie Avalokiteshvara genannt. In diese eingebettet, lassen wir uns nun auf unsere eigene Krankheit ein, indem wir immer wieder folgendes Gebet wiederholen.

Mögen die unzähligen Lebewesen durch meine eigene Krankheit von ihren Krankheiten und Leiden erlöst werden.

Wie ist das zu verstehen? Christlich geprägt, wie wir sind, ist die Assoziation zu Christus, der für die anderen das Kreuz erleidet, naheliegend. Es geht aber um etwas anderes:
Das wichtigste bei diesem Schritt ist, dass ich meine Krankheit bzw. mein Krankheitserleben als Gabe hingebe und damit mein Haften loslasse. Wenn ich nur um meine Heilung ringe, komme ich automatisch ins Festhalten. Die Praxis des Gebens ist also ein geschicktes Mittel, um uns aus unserer eigenen Fixiertheit zu erlösen. Dadurch kommt die Lebensenergie als Heilungsenergie ins Fliessen. Dies ermöglicht, dass tiefere Dimensionen unseres Seins bewusst werden.

Wenn jetzt Schmerzen, Gefühle und Erinnerungen aufsteigen, greife ich nicht danach, ich bewerte nicht, analysiere nicht, lehne sie nicht ab, sondern lasse sie durch mich hindurchfliessen und gebe sie als Gabe hin in den offenen universellen Raum. Am besten macht man diese Übung im Liegen, um tief entspannen zu können. Ich lasse zu, dass sich die Schmerzen ausdrücken, im Wissen und Vertrauen, dass ich so dem Leben und dem Wohl aller Wesen am besten diene. Denn wenn ich sie festhalte, sie bekämpfe oder unterdrücke schade ich dem Leben und verhindere seine Erneuerung. Vielleicht fällt mir jetzt auf, dass ich das lange getan habe und so das Leiden fortgesetzt habe, das mir andere in der Vergangenheit zugefügt haben.

So kann ein emotionaler, geistiger und körperlicher Reinigungsprozess in Gang kommen, in dessen Verlauf wir die Ursachen unseres Leidens zutiefst verstehen, erleben und loslassen. Wenn wir so praktizieren, geschieht eine geheimnisvolle Verwandlung. Eingebettet in umfassendes Mitgefühl erleben wir unseren Schmerz und werden davon im eigenen Herzen berührt, weil wir in der Haltung gebender Liebe bleiben, können wir ihn zulassen und loslassen und unsere Hingabe mit allen anderen leidenden Wesen teilen. So verwandelt sich Schmerzenergie in Liebesenergie. Wenn die Dynamik des Prozesses abgeklungen ist, gilt es, solange wie möglich in der Empfindung von Wahrheit, Klarheit und allumfassender Liebe zu verweilen.

Diese Praxis, mit allen Übungsschritten, ist so oft wie möglich auszuführen. Die Worte, die wir in den Gebeten sprechen, können sich dem inneren Erleben anpassen. Z.B. können wir die Art unseres Leidens konkret benennen. Es ist wichtig, dass wir sagen, was wir fühlen und dass wir fühlen, was wir sagen. Formalismus hilft nicht. Wir kehren aber immer wieder zu den einfachen traditionellen Formulierungen zurück, sie enthalten alles und haben die meiste Kraft. Keiner der Übungsschritte ist verzichtbar. Sie führen schrittweise in die Tiefe. Es offenbaren sich zunehmend die Ursachen und Bedingungen unseres eigenen Krankseins und wir verstehen gleichzeitig aber auch immer tiefer das Leiden unserer Mitwesen.
Im Anschluss an die Übung können wir darangehen, das Erkannte zu verwirklichen und zwar überall: in unseren alltäglichen Beziehungen, bei der Arbeit, oder im Krankenhaus. Der Wunsch, mögen die unzähligen Lebewesen durch meine eigene Krankheit von ihren Krankheiten erlöst werden, wird sich dann ganz konkret erfüllen und zwar dadurch, dass wir immer fähiger werden, auch anderen aus ihren Verstrickungen herauszuhelfen.
Übungsanleitung erprobt und ausgearbeitet nach der Anleitung in: Karmapa Wangtchug Dordje, Mahamudra – Der Ozean des wahren Sinnes, Münster 2009, S. 252

© Ute Volmerg, alle Rechte vorbehalten

Autor/Autorin des Textes: 

Die Lehre

Worum geht es?

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Worum geht es?

Buddhismus ist keine Glaubensreligion, sondern ein Befreiungsweg, auf dem wir lernen uns selbst zu durchschauen. Dadurch sind wir immer besser in der Lage, Verantwortung für unser Handeln zu übernehmen. Wir müssen nicht mehr zwangsläufig altes Leiden wiederholen. Nichts Anderes lehre ich, sagte der Buddha vor mehr als 2500 Jahren, als die Befreiung vom Leiden. Schritt für Schritt entdecken wir auf diesem Weg unsere grundlegenden menschlichen Qualitäten in uns und in anderen. Wir erfahren das Leben auf eine unmittelbare Weise, so als würden wir aus einem Kino an die frische Luft heraustreten.

Der buddhistische Weg

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Der buddhistische Weg

Buddhismus ist ein Schulungsweg, der alle Aspekte unseres Daseins mit einbezieht. Das Ziel dieses Weges ist die Befreiung von Denkmustern und Verhaltensweisen, die uns und anderen immer wieder Leiden bereiten. Um das zu erreichen, müssen wir unseren Geist schulen. Denn von unseren Vorstellungen gehen unsere Handlungen aus. Bevor wir handeln, haben wir ein Motiv, einen Gedanken, eine Absicht und einen Plan, auch wenn uns das nicht bewusst ist. Wenn alles so läuft, wie wir uns das wünschen, fällt uns das gar nicht auf. Doch wenn Hindernisse auftauchen, zweifeln wir an uns, an anderen oder verzweifeln gar am Leben. Das bedeutet Leiden. Deshalb ist es so wichtig zu erkennen, wie unser Geist arbeitet. Geist ist mehr als Denken, er speichert alle unsere Erfahrungen. Nach den Mustern, die wir in der Vergangenheit gelernt haben, gestalten wir unsere Zukunft. Das ist ein unbewusster Vorgang, doch man kann ihn durch meditative Geistesschulung bewusst machen. So gewinnen wir mehr Einfluss und den Spielraum, ein glückliches Leben zu führen. Am Anfang des Weges lernt man den Geist zu konzentrieren und zu beruhigen. Dadurch entstehen Energie und Klarheit. Wir können unsere Lebenssituation betrachten und haben auch die Kraft, sie zu verändern. Ein weiterer Schritt ist das Training des Gewahrseins, um in jedem Augenblick unseres Lebens wach, klar wahrnehmend und erkennend gegenwärtig zu sein. Das letztendliche Ziel des Schulungsweges besteht darin, unsere individuelle Lebensgestaltung in zunehmende Übereinstimmung mit der universellen Wahrheit des Lebens zu bringen. Um diese universelle Wahrheit zu erkennen, benötigen wir neben der Meditation auch das Studium der buddhistischen Weisheitsliteratur. Sie hilft uns, unsere Erfahrungen auf dem Weg so einzuordnen, dass wir uns immer wieder auf das Befreiungsziel ausrichten können. Für dieses Ziel brauchen wir sowohl die Unterstützung durch Lehrer/innen als auch durch eine Gemeinschaft (Sangha). In dieser Gemeinschaft geht jedes Individuum seinen eigenen Weg, und doch wirkt dieser Sangha als eine tragende Kraft, weil Alle auf dasselbe Ziel ausgerichtet sind: Leiden zu beenden und Weisheit und Liebe zu verwirklichen.

Wie Sie den Anfang finden

Sich auf den Weg machen

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Wie Sie den Anfang finden

Im Dharmazentrum Schaffhausen können Sie an einer Basisgruppe für Anfänger teilnehmen. Sie können uns aber auch an einem Dharma-Workshop über zentrale Inhalte der buddhistischen Lehre kennenlernen. Wenn Sie schon in der Meditation erfahren sind und die verbindliche Zugehörigkeit zu einer aktiv praktizierenden Gemeinschaft suchen, ist nach einer Übergangszeit der Einstieg in die Mittwochsgruppe möglich. Um Sie kennenzulernen und Ihnen die nötigen Vorinformationen zu vermitteln, ist in jedem Fall ein Vorgespräch mit unserer Leiterin erforderlich.

Es beginnt mit einem Gespräch

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Per E-Mail oder Telefon vereinbaren Sie einen Termin. Im ersten Gespräch lernen wir uns gegenseitig unverbindlich kennen. Wir klären Ihre Motivation und Ihre Erwartungen sowie die Angebote des Zentrums. Dabei gewinnen Sie einen persönlichen Eindruck davon, in welcher Tradition wir stehen und wie Buddhismus im Dharmazentrum Schaffhausen gelehrt wird. Sie werden spirituell beraten, wie Sie am besten weiterkommen. Sie entscheiden.

Zeiten: Dauer ca. eine Stunde;
für Terminabsprachen rufen Sie mich am besten zwischen 8:00 und 9:00 an;
Daten: werden miteinander vereinbart;
Ort: Dharmazentrum Schaffhausen, Vordergasse 31/33;
Kosten: erstes Klärungsgespräch keine; weitere Beratungsstunden 130, - CHF bzw. nach Vereinbarung;
Voraussetzungen: spirituelle Suche, Entschlossenheit;
weitere Informationen: sita@dharmazentrum.ch, Tel. 052 620 42 27;
Lehrerin: Sita Vajramati.

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