Prajnaparamita - Die Vollkommenheit der Weisheit

Druckversion

Shantidevas Rede wurde bei ihrer endgültigen schriftlichen Fassung im elften Jahrhundert in zehn Kapitel aufgeteilt und erhielt den Titel „Der Weg des Bodhisattvas“. Der Text beschreibt den gesamten Weg, vom ersten Erwachen von Bodhicitta bis hin zur Verwirklichung der Leerheit, aufgeteilt in unterschiedliche Paramitas, das heisst Tugenden, die zu üben und zu verwirklichen sind.

Für diesen Vortrag wurde mir Kapitel neun, in dem Shantideva über die Tugend der Weisheit spricht, zugeteilt. In der Einführung zu Shantidevas Text steht zu Kapitel neun: „Das komplexeste, wie auch das schwierigste Kapitel ist das neunte“ (Diego Hangartner, Shantideva Anleitungen auf dem Weg zur Glückseligkeit, S. 15/Fischer Verlag, Frankfurt am Main). Auch im buddhistischen Lehrsystem haben die Schriften über die Weisheit einen sehr hohen Stellenwert, so auch dieses neunte Kapitel in Shantidevas Werk. In den Schriften über die Weisheit findet die Essenz von Buddhas Lehre ihre Vollendung.

Pema Chödrön, die in ihrem wunderbaren Buch „Es ist nie zu spät“ die Rede Shantidevas interpretiert, lässt das neunte Kapitel gleich ganz weg.
Sie sagt dazu: „ Zwar sind diese Lehren über die Paramita der Weisheit wichtig im Gesamtzusammenhang des Werkes, aber sie sind im Vergleich zum restlichen Text geradezu furchteinflössend anspruchsvoll“, (Pema Chödrön, Es ist nie zu spät, S. 15/Arbor Verlag, Freiamt im Schwarzwald).
Um sich mit dem neunten Kapitel auseinanderzusetzen verweist Pema Chödrön auf ein von «Seiner Heiligkeit», dem Dalai Lama, verfasstes Buch, in dem er sich allein mit diesem Kapitel beschäftigt. Leider reichte mein Englisch nicht aus um dieses Buch zu lesen. Vielleicht war das auch ganz richtig so, denn ich weiss nicht ob ich mich danach noch getraut hätte meine bescheidenen Erkenntnisse in Worte zu fassen. Doch so wurde dieser Vortrag zu meinem ganz eigenen Werkstück.

Geholfen haben mir dabei die Schriften von Lama Govinda, Michael von Brück und Hans Wolfgang Schumann sowie meine Lehrerin Sita. Auch Kalyani und Kshanti haben sich geduldig mit meinen Aussagen befasst und mir Mut gemacht. Nun freue ich mich darauf mit euch all das teilen zu dürfen, was ich von Shantidevas Aussagen zur Vollkommenheit der Weisheit verstanden zu haben glaube, und ich lasse natürlich den grossen Meister Shantideva selbst immer wieder zu Wort kommen. Ich bitte euch im Stuhl zurückzulehnen und meinen Worten ganz entspannt zu folgen. Wenn ihr am Schluss nicht mehr wisst, was ich gesagt habe, und keine klugen Fragen stellen könnt, spielt das keine Rolle. Es geht um Weisheit und nicht um Wissen. Wenn es auch nur einen kurzen Augenblick gelingt den Weisheitsgeist in euren Herzen zu berühren, ist alles erreicht was zu erreichen ist.
Ich lade euch ein mich auf der Reise durch das neunte Kapitel zu begleiten.

Wortdefinitionen
Bevor wir starten, möchte ich gerne ein paar Ausdrücke, die ich verwenden werde, erklären, obwohl sie schon einige Male erklärt worden sind. Vor allem möchte ich den epochalen buddhistischen Kontext, innerhalb dessen sich Shantidevas Rede entfaltet, sichtbar machen.
Die absolute Weisheit oder die Vollkommenheit der Weisheit bezeichnet man im Sanskrit als Prajnaparamita. In diesem einen Begriff wird die ganze Lehre in wenigen Worten zusammengefasst.
Prajna heisst Weisheit;
param wird abgeleitet vom Verb paragam, was soviel bedeutet wie hinüber gehen;
ita setzt das Verb in die Vergangenheitsform, also bereits hinüber gegangen zu sein. Ganz hinüber gegangen sein, dahin, wo es kein Leiden mehr gibt. Ita bezeichnet eigentlich den Prozess um vom Ufer des Leidens zum Ufer der Befreiung vom Leiden zu gelangen.
Paramita als ganzes Wort verwendet, meint die Tugenden oder Fähigkeiten, die es auf diesem Weg braucht um sich vom Leiden zu befreien. Man könnte auch sagen, dass die Paramitas das Floss, respektive unsere Anstrengungen sind, mit dem wir den Ozean des Leidens durchqueren.
Den ersten Wunsch sich auf diesen Weg zum anderen Ufer zu machen, nennt man Bodhicitta, den erwachenden Erleuchtungsgeist, den jeder von uns in sich trägt.

Bodhisattva Ideal
Das Boddhisattva Ideal bezeichnet den tiefen inneren Wunsch alles Erlernte und Erfahrene mit allen fühlenden Wesen zu teilen und die Erleuchtung für alle Wesen anzustreben und zu verwirklichen. Alle Verdienste, alles Erreichte will hingegeben werden um den anderen Wesen auf ihrem Weg zur Befreiung zu helfen. Das Ziel eines Bodhisattvas ist nicht das Eingehen ins Nirvana, sondern die Rückkehr in eine menschliche Inkarnation solange bis alle Wesen vom Leiden befreit sind. Seine Heiligkeit, der vierzehnte Dalai Lama, sagt in Bezug auf seine nächste Inkarnation: „Solange die Welt besteht, solange es fühlende Wesen gibt, solange es Leiden gibt, solange werde ich da sein um zu dienen. Das ist unsere wahre Aufgabe im Leben.“ (Mickey Lemle, DVD, der letzte Dalai Lama/mindjazz-pictures 2018)
Die Verwirklichung von Prajnaparamita, der Vollkommenheit der Weisheit, oder die höchste aller Weisheit kann als „Die Weisheit, die die Leerheit versteht,“ bezeichnet werden. Das absolute Verstehen der Leerheit ist hier der Schlüssel zur Befreiung.

Nun beginnt die Reise zu meinem Verständnis von Prajnaparamita in Shantidevas neuntem Kapitel:

Leerheit erklärt anhand des bedingten Entstehens
Wenn ich von Leerheit spreche, dann meine ich nicht eine grosse dunkle Leere und ich spreche auch nicht vom Nichts. Man könnte diesen Ausdruck leicht mit einer nihilistischen Weltanschauung verwechseln oder als einen idealistischen negativen Ich- Komplex verstehen, der uns das Recht auf ein glückliches und erfülltes Leben abspricht. Doch darum geht es nicht, Leerheit meint ganz etwas anderes, wie wir nun schon ein paar Mal gehört haben. Leerheit bezeichnet die Tatsache, dass alle Objekte und Erscheinungen leer sind von einer eigenständigen Existenz. Das heisst, sie existieren zwar, aber nicht für sich allein. Sie sind abhängig von vielen verschiedenen Faktoren entstanden. Nehmen wir zum Beispiel einen Schneemann. Ich würde niemals behaupten, da sei kein Schneemann, wenn ich vor einem stehe, nein, er ist da. Aber ich würde auch niemals behaupten, ein Schneemann sei irgendwie aus sich selbst heraus allein entstanden und würde nun für immer und ewig so bleiben wie er im Moment ist. Genauso wenig kann man behaupten der Schneemann würde eines Tages einfach spurlos wieder verschwinden.

Shantideva
Wie auch immer, die Wahrnehmungen von Sehen und Hören
Werden hier nicht verneint
Was widerlegt wird, ist die Ursache des Leidens
Nämlich die Vorstellung, dass Phänomene wirklich existieren.

(Shantideva, Kapitel 9, Vers 25/Seite 237)

Um einen Schneemann zu bauen brauchen wir Schnee und wir brauchen einen Körper, Hände und eine Idee, einen Gedanken. Alles ist voneinander abhängig. Schnee bedingt Wasser und Kälte und um den Schneemann zum Schmelzen zu bringen braucht es Wärme. Wenn er geschmolzen ist, ist er ja nicht verschwunden, dann hat er nur die Form gewechselt, von Schnee und Eis zu Wasser. Genauso verhält es sich mit allen Formen, den materiellen und geistigen Objekten, die wir sind und die uns umgeben. Ein Schneemann besteht wie unser menschlicher Körper aus den Elementen, er entsteht und vergeht in Abhängigkeit zu allen anderen Formen - soweit die Leerheit der Formen, erklärt durch das bedingte Entstehen.

Das bedingte Entstehen zu verstehen, beendet jedoch unsere Leiden noch nicht. In Wahrheit existieren weder das Subjekt noch das Objekt, da alles nur Geist ist. „Die Gesamtheit des Seins ist leer von einer substantiell bestimmten Dualität zwischen Geist Materie“, ( Khenpo Tsültrim Gyamtso Rinpoche, stufenweise Meditationsfolge über Leerheit, Zweites Stadium: Chittamatra, S.32/Kagyü-Dharma Verlag 1994).

Leerheit erleben in der Meditation
Wenn der menschliche Körper vergeht, löst sich die Form des individuellen Bewusstseins ebenfalls auf und es offenbart sich das universelle Bewusstsein in seiner Essenz-Natur von Raum, Licht und Liebe. Das sind weise Worte, doch um auch nur annähernd zu verstehen was das heisst, braucht es den Weg über die Meditation, mit meinem Intellekt kann ich das nicht erfassen. Mit der Atemmeditation, Anapanasati, öffnet sich in meinem Geist immer wieder der Zustand der Leerheit oder der Soheit, wie immer man das bezeichnen möchte. Wenn ich kurz durch diese Öffnung gehen darf, entsteht ein Geisteszustand der Weite, nichts kann ergriffen oder benannt werden, ich nehme alles ganz intensiv und glasklar wahr ohne es irgendwie einordnen oder gedanklich verfolgen zu müssen. Es ist alles da, ich höre die vereinzelten Rufe eines Vogels und die Geräusche eines Flugzeuges, ich spüre die leichte Unruhe in meinem Solarplexus und erlebe den kühlen Wind der durchs Fenster weht, Gedanken kommen und vergehen und mein Geist ist weit, innen und aussen verlieren die Grenzen und trotz viel Bewegung ruhe ich still in meiner Mitte.

Shantideva
Wenn Existierendes und Nicht-Existierendes
Nicht vor dem Geist erscheinen,
dann bleibt ihm nichts anderes übrig
ohne Konzepte ist der Geist zur Ruhe gekommen

(Shantideva, Kapitel 9, Vers 34/Seite 241)

Die Natur des Geistes
Alles ist wie es ist, haben und nicht haben wollen sind für einen kurzen Moment verschwunden und das Bewusstsein erkennt sich in sich selbst. Im Spiegel des Geistes schaue ich die Manifestationen des Geistes. Diesen Satz habe ich von Kshanti bekommen, er verweist auf die spiegelgleiche Weisheit unseres Geistes. Alles ist gleichzeitig da, Markus, der im Zimmer unter mir hustet, das Geräusch des Flugzeuges am Himmel, der kurze Schrei des Vogels, der Schmerz in meinem angewinkelten Knie und der Geruch von frisch gebackenem Brot. All das sind Bestandteile dieses einen Augenblicks, während dessen sich ein tiefer Friede in mir ausbreitet. Mein Geist ruht in seiner ursprünglichen Natur, nicht gegenständlich, voll von Qualitäten, rundum wahrnehmend, nicht greifend und friedvoll. Er ist leer vom Haften und trotzdem sind alle Formen da. Form und Leerheit sind gleichzeitig wahrnehmbar, der Geist in seinem natürlichen Zustand eines leeren Spiegels, die Formen, die in diesem Spiegel erscheinen und das Erkennen, dass Formen, die in einem Spiegel erscheinen, nicht wirklich sein können. Es sind nur Geistspiegelungen und sie sind auch nicht vom Spiegel/respektive vom Geist zu trennen, sie haben keine wirkliche oder unabhängige Existenz, sie sind leer. Der Geist verweilt in der Erfahrung des gegenwärtigen Moments und er unterteilt nicht in Subjekt und Objekt, also in den Erlebenden und das Erlebnis.

Shantideva
Wie kann etwas, dessen Wesen es ist, einen Klang zu erfassen,
sich wandeln und eine Form erfassen?
Es kann doch auch eine Person gleichzeitig Vater und Sohn sein.
Dies sind nur Bezeichnungen, die für die absolute Wirklichkeit nicht zutreffen

(Shantideva, Kapitel 9, Vers 63/Seite 249)

Weisheitsgeist
Diese kleinen, aber für mich ganz grossen Momente, erlebe ich als das Aufscheinen des Weisheitsgeistes in mir und sie wecken den Wunsch den Weg unbeirrt weiterzugehen und alles, was ich dabei erfahre, mit allen anderen Wesen zu teilen. Mein Herz ist dann für eine Weile erfüllt von Liebe und Mitgefühl für mich und alles, was mich umgibt.

Shantideva
Alle Zweige der Lehre
Hat der Weise (Buddha) um der Weisheit willen unterrichtet.
Wer den Wunsch hat die Leiden zu beenden
Sollte darum Weisheit entwickeln.

(Shantideva, Kapitel 9, Vers 1/Seite 231)

Alltagsbewusstsein und Leiden
Das Betrachten des bedingten Entstehens vertieft mein Mitgefühl und das Wissen um die Unantastbarkeit des immerwährenden Bewusstseinsstroms erfüllt mich mit Leichtigkeit. Doch das sind Momente, kurze Blicke zum „anderen Ufer“ und dann kehrt mein Alltagsbewusstsein zurück und verdeckt die wahre Wirklichkeit. Ich bin erneut gefangen in der konventionellen Wahrheit, in der meine eigenen Erfahrungen und Prägungen, gepaart mit den gesellschaftlichen Normen und Werten, mein Leben bestimmen und unbarmherzig Leid erschaffen.

Shantideva
Konventionelle und absolute Wahrheit
Sind die beiden anerkannten Wahrheiten.
Absolutes liegt nicht im Bereich des Verstands
Der Verstand umfasst nur das Konventionelle

(Shantideva, Kapitel 9, Vers 2/Seite 231)

Denken wir an den Schneemann, dann wird uns klar, dass wir leiden müssen, wenn wir uns an die Vorstellung klammern, er wäre etwas Eigenes, Getrenntes und würde niemals vergehen. Ganz kleine Kinder tun das und sie leiden, wenn er schmilzt. Wir leiden ebenfalls an der falschen Vorstellung, dass weder unser eigener noch die Körper unserer Liebsten vergehen sollten und wenn doch, dann bitte wenigstens ohne Krankheit und Schmerzen. Wir leiden daran, dass wir die Tatsachen des Lebens, das bedingte Entstehen und Vergehen, und die nicht wirkliche Existenz, die Leerheit aller Objekte, nicht wahr haben wollen. Würden wir den Schneemann oder unseren Körper von Anfang an als etwas betrachten, das abhängig von vielen verschiedenen Faktoren für einen Moment die Form angenommen hat, die wir gerade erleben, und dass Form nichts Wirkliches, also nichts Starres und Unvergängliches, sondern eine Spiegelung in unserem Geist und von daher nur eine Geistform ist, dann könnten wir jeden Augenblick geniessen und würden uns auf keinen Fall an etwas so Unbeständiges, Unwirkliches wie einen Schneemann oder unseren Körper klammern. Dass unser Körper für immer bestehen bleiben sollte, ist eine unserer grössten Illusionen, eines unserer grössten Hindernisse auf dem Weg zur Befreiung, und sie wird allein in unserem Geist erzeugt.

Shantideva
„ Die Illusionen sind Erzeugnisse des Geistes und nichts anderes,
sie sind aber auch etwas anderes als Geist“
„Falls sie real wären, wie könnten sie sowohl das eine als auch das andere sein?“

(Shantideva, Kapitel 9, aus Vers 26/Seite 237)

Hindernisse auf dem Weg zur Befreiung
Die Wahrheit des Lebens sagt etwas ganz anderes als das, was wir gerne hätten. Ein menschlicher Körper verändert sich dauernd, zuerst vom Baby zum Greis, danach zerfällt er in seine Einzelteile und wird zu Asche oder Erde. Wir alle wissen das, trotzdem leiden wir, wenn es uns oder unseren Liebsten geschieht. Wir leiden, weil wir das bedingte Entstehen und Vergehen und die Fatamorgana ähnliche Erscheinung von allen Formen und Phänomenen nicht wirklich erkennen, weil wir die Leerheit, die Objekt und Subjekt nicht trennt, noch nicht verstanden haben. Doch genau diese Hindernisse bringen mich immer wieder auf den Weg zurück. Wenn es nicht so läuft wie ich mir das vorstelle, wenn mich Krankheiten und Existenzängste quälen, wenn ich mich in den unendlich vielfältigen, leidvollen Formen meines EGO Konstrukts verliere, weckt das den intensiven Wunsch mich von diesem Leiden zu befreien. Je grösser das Leiden umso tiefer der Wunsch. Deshalb sollten Hindernisse als Wegweiser, als Hilfen statt als Hürden, betrachtet werden und sie verdienen unsere Dankbarkeit.

EGO-Konstrukt
So tief und beständig wie unser Anhaften an unserem Körper, ist unser Anhaften an der Vorstellung eines eigenständigen Selbst.
Dabei ist unser EGO eine geistige Form, also eine Geistform, deren Ausbildung wir recht gut zurückverfolgen können. Wenn wir die Verhaltensweisen und Werthaltungen unserer Eltern, Grosseltern, unserer Geschwister, Nachbarn und Lehrer und unserer Umgebung, in der wir aufgewachsen sind, betrachten, entdecken wir ganz sicher viele Bausteine, aus denen wir unser EGO konstruiert haben.

Shantideva
Die Muskeln und die Haut sind nicht das Ich
Die Körperwärme wie die Körperwinde sind auch nicht das Ich
Ebenso wenig sind das Ich die Körperhöhlen
Und in keiner Weise sind das Ich die sechs Sinneswahrnehmungen

(Shantideva, Kapitel 9, Vers 59/Seite 247)

Shantideva untersucht alle Bestandteile des Körpers ganz genau und kommt immer zu demselben Schluss, das Ich ist nirgends zu entdecken. Ebenso wenig kann er das Ich im feinstofflichen Bereich erspähen, es ist nicht da. Unser so heiss geliebtes und in jeder Situation von uns verteidigtes Ich hat keine wirkliche Existenz, es ist leer.

Shantideva
Falls es das Ich wirklich gäbe
Würde es sich vor allerlei fürchten
Da es das Ich jedoch nicht gibt
Wer hat Angst?

(Shantideva, Kapitel 56, Vers 2/Seite 247)

Es ist einfach nur eine durch verschiedene Bedingungen entstandene Idee von uns selbst, die in keiner Weise dem entspricht, was wir wirklich sind, nämlich eine bedingt entstandene individuelle Ausformung des universellen Bewusstseins, so wie eine Welle im Meer entsteht und trotzdem wie das Meer selbst immer Wasser bleibt. Hätte ich diese Weisheit, die Weisheit der Leerheit, wirklich verstanden und verinnerlicht, dann hätte ich in der Tat keine Angst mehr, weder vor dem Leben noch vor dem Sterben. Ich wäre frei und könnte meine ganze Kraft dazu verwenden anderen Wesen auf ihrem Weg zur Befreiung zu helfen.

Shantideva
Wann werde ich, ohne etwas als wirklich zu erfassen
Mit Hochachtung das Verdienst ansammeln
Und jenen Wesen, die zerstört werden durch
Das Etwas-für-wirklich –Halten, die Leerheit offenbaren?

(Shantideva, Kapitel 167, Vers 2/Seite 279)

Die Vollkommenheit der Weisheit und die Erkenntnisse der Quantenwissenschaft
Die Verwirklichung der vollkommenen Weisheit bedeutet aber auch, dass unser intellektuelles Denken, also unser Gehirn mit unserem Herzen eins geworden ist. Wir denken mit dem Herz und fühlen mit dem Verstand. Die modernen Naturwissenschaftler, vor allem die Astro- und Quantenphysiker, sind den Erkenntnissen des Buddha schon ganz nah gekommen. Sie wissen, dass sich Materie anders verhält, sobald sie von einem Menschen beobachtet wird, und sie wissen auch, dass das Herz genauso viele Gehirnzellen enthält wie das Gehirn selber, also ist unser Herz auch physisch in der Lage zu denken. Dass die Verbindung zwischen Hirn und Herz unsere menschlichen Fähigkeiten erst zur vollen Entfaltungen bringt, ist unterdessen auch klar und es gibt verschiedene von Quantenwissenschaftlern entworfene Methoden um dies zu fördern.

Liebe und Mitgefühl
Auf einer Veranstaltung des Quantenwissenschaftlers Greg Braden, bei der es eben darum ging die Verbindung zwischen Herz und Hirn herzustellen, sah ich ein Video über zwei viel zu früh geborene Zwillingsmädchen. Unmittelbar nach der Geburt wurden die beiden in je einen Inkubator gelegt. Während das eine, etwas grössere und stärkere Mädchen, sich von der Geburt erholte, wurde das andere zusehends schwächer. Daraufhin entschied das Team auf der Intensivstation das kaum mehr lebensfähige Baby in den Inkubator neben das stärkere Zwillingsmädchen zu legen. Nachdem dies geschehen war, wurde das Kind wieder an die Monitore, die seine Vitalfunktionen überprüften, angeschlossen. Nun konnte man beobachten, wie das gesündere kleine Mädchen seinen Arm anwinkelte, ihn hob, dann ausstreckte und ihn quer über die Brust seiner sterbenden Schwester legte. In diesem Moment stabilisierte sich deren Herzschlag. Als ich dieses Video sah, war ich zutiefst berührt und ich bin es heute noch. Wie konnte dieses winzige, nur wenige Stunden alte, zu früh geborene Wesen wissen, was es tun musste um seiner Schwester zu helfen?

Prajnaparamita, die liebende vollkommene Weisheit in Aktion. Manchmal, wenn wir über eine schwierige Situation sprechen, fragt Sita „und was sagt die liebende Weisheit dazu?“
Sie sagt, wir brauchen einander, wir sind miteinander verbunden, wir alle sind eine individuelle Ausformung desselben, einen Bewusstseinstroms und im Grunde genommen sind wir alle einfach nur Liebe und Mitgefühl, Prajnaparamita, liebende Weisheit. Wie sonst hätte dieses winzig kleine Mädchen genau gewusst was in jenem Moment zu tun war?

Schlusswort
Um das zu erreichen, um zu werden was wir schon immer waren, gab uns der Buddha die Paramitas, die zu verwirklichenden Tugenden mit auf den Weg. Doch wir können diesen Weg nicht gehen ohne
• die heiligen Texte systematisch zu studieren
• deren Inhalte zu meditieren
• und das Erlernte/Erfahrene gleichzeitig im Alltag zu üben

Um das tun zu können brauchen wir Unterstützung durch eine gute Lehrerin, wir brauchen die Schriften und jemanden, der uns diese erklärt, und wir brauchen unseren Sangha, mit dem wir den Weg gemeinsam gehen und unsere Erfahrungen teilen können.

Ich bedanke mich für euer achtsames Zuhören und möchte zum Schluss mit euch gemeinsam das Mantra der Göttin Prajnaparamita, der Verkörperung aller Weisheiten singen.

Gehen, gehen,
Hinüber gehen,
hinüber gegangen sein
zum anderen Ufer, zum Ufer des Erwachens

Om gate gate
Paragate parasam gate
Bodhi svaha

Autor/Autorin des Textes: 
Diese Website verwendet Cookies, um Ihnen mehr Benutzerfreundlichkeit bieten zu können.
Mit der Nutzung unsere Website stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu.