Die Philosophie des Cittamatra

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Die Philosophie des Cittamatra

Cittamatra ist eine philosophische Schule des Mahayanabuddhismus, in der erwiesen wird, dass es keine Dualität zwischen Subjekt und Objekt geben kann. Alles erscheint im Geist, über eine Welt unabhängig von subjektiver Erfahrung lassen sich keine gültigen Aussagen machen. Priti Ursula Weber arbeitet in ihrem Vortrag für die Prüfung im Systematischen Studium des Buddhismus die zentralen Positionen des Cittamatra heraus und lässt uns teilhaben an ihrem Praxisweg.

Mein Vortrag hat das Cittamatra zum Inhalt.
Das Cittamatra war einerseits eine buddhistische philosophische Schule, gegründet im 4. Jhdt. nach Chr. von Asanga und Vasubandhu.
Andrerseits repräsentiert es die 2. von 5 Entwicklungsstufen eines Individuums im Verstehen der Leerheit.

Cittamatra heisst übersetzt „Nur-Geist“. Die Philosophie der Cittamatralehre sagt aus, dass alles, was wir wahrnehmen, jedes Phänomen, auf der Grundlage unseres Bewusstseins entsteht und dass alle Objekte nur innerhalb unseres Bewusstseins existieren. Aus ihrer Sicht gibt es demnach keine Objekte, die getrennt vom Bewusstsein sind.
Die Cittamatrins waren hervorragende Meditierende. Ihre Überlegungen waren die Resultate ihrer Meditationserfahrungen. Sie begründen ihre Philosophie mit der Aussage des Buddha, dass die drei Welten oder die drei Bereiche ausschliesslich von der Natur des Geistes seien.

Die Bedeutung und Beherzigung dieser Sichtweise in unserem Leben und Alltag möchten wir nun ein wenig betrachten.

In der ersten Entwicklungsstufe im Verstehen der Leerheit, dem Shravaka-Stadium, das zum Hinayana gehört, geht es um das Aufhören des eigenen persönlichen Leidens. Es wird erkannt, dass die Daseinsgruppen, die Skandhas, leer von einem Selbst sind. Das Haften an einem „Selbst“, durch das die geistigen Störfaktoren hervorgerufen werden, die zum Leiden führen, wird beseitigt. Dies geschah vorwiegend durch das Leben der Mönche im Kloster. Sie zogen sich zurück, um sich nicht von der Welt verführen zu lassen. Sie kultivierten die Ich-Losigkeit. Sie beseitigten also die Behinderungen, durch die die negativen Störfaktoren und falschen Vorstellungen entstehen. Es ist dies der Weg zur Erleuchtung durch Weltentsagung.

Die Basis der Mahayanapraxis ist die Einsicht, dass wir die Welt kennen müssen, um von ihr nicht verführt zu werden. Die Mahayanis nehmen sich Buddha zum Vorbild. Sie wollen, so wie er es getan hat, den Kontakt mit der Welt, sie wollen mitten im Leben bleiben. Sie wollen die Welt durchschauen und erkennen, wie sie ist. Erst dann kann man sich nämlich vor Verstrickung mit ihr schützen.
Das Mahayana erkennt, dass wir uns nicht bewusst sind über die wahre Natur der Wirklichkeit. Durch diese Unbewusstheit wird die Fülle des Potentials, über die wir Menschen verfügen, nicht ausgeschöpft. Es bestehen sehr subtile Wissensschleier.
Im Mahayana erfolgt Befreiung durch Weisheit, indem man die Welt anders sieht. Durch das Erkennen, was die Welt wirklich ist, werden die letzten Wissensschleier beseitigt.
Wir Menschen besitzen die Fähigkeit, den Zustand des vollkommenen Erwachens zu erreichen und darüber hinaus als Bodhisattvas allen Wesen zur Befreiung zu verhelfen. Es gilt dabei, sich vom Haften an die Welt zu befreien und zum Wohl für die anderen dazusein. Erlösung geschieht durch Nicht-Anhaften und Weisheit. Dabei steht man mitten im Leben. Dieser Weg der Befreiung fordert stark heraus, da Geschicklichkeit im Umgang mit verschiedensten Lebensbedingungen gefragt ist.
Im Cittamatra ist die Betrachtung des Geistes zentral.
Wie können wir unseren Geist definieren?
Er hat keine materiellen Eigenschaften, er ist bewegt, schnell, umfassend, er ist nicht greifbar, doch er kann Dinge erfassen und erkennen. Wir glauben vielleicht, gar keinen Geist finden zu können. Wir erkennen jedoch in uns etwas Denkendes und Wahrnehmendes, wir haben Empfindungen mit grosser Wirkungskraft, die weit über diejenige von Materiellem hinausgeht.

Die Cittamatrins stellen sich den eigenen Geist als einen Strom von vorbeiziehenden, in Abhängigkeit entstehenden Gewahrseinsmomenten vor mit einem erfassenden und einem erfassten Aspekt. Der erfassende oder erkennende Aspekt ist das Subjekt, der erfasste oder erkannte ist das Objekt.

Der erkennende und erkannte Aspekt bedingen einander, d.h., es gibt kein Subjekt ohne ein Objekt, denn ohne Erkennenden gibt es kein Erkanntes, keinen Erlebenden ohne ein Erlebtes. Die Nur-Geist-Schule sagt, dass das wahrgenommene Objekt und das wahrnehmende Bewusstsein gleichzeitig entstehen und sich bedingen. Die Vorstellung von separaten, wahrhaft existierenden äusseren Objekten ist eine Erfindung des Geistes. Es gibt keine separate Wesenheit, die nicht mit irgend etwas verbunden ist, nehmen wir zum Beispiel Luft oder Schwingungen. Alles, was wir wahrnehmen, alle Phänomene sind Bewusstsein, sind Geist. Er ist leer in dem Sinn, dass er keine dauerhafte, separate und unabhängige Wesenheit besitzt.

Das heisst natürlich nicht, dass es keine Welt „da draussen“ gibt. Aber diese Welt ist nicht isoliert. Es ist immer ein Zusammenwirken von innen und aussen. Ein Aussen allein gibt es nicht. Wir könnten über eine Welt, die ausserhalb von uns existiert, gar keine Aussage machen, ohne dass wir dabei wären.

Im 1., im Shravaka-Stadium geht man noch von einer Welt „da draussen“ aus, die jenseits unserer Sinne ist.
Wir erfahren klar in der Meditation, dass wir unsere Wahrnehmung und Vorstellung nicht in einen innerlich erfassenden Geist und ein äusseres Objekt unterteilen, sondern dass wir Einheit und Verbundenheit erleben. Wir können jedoch sagen, dass sowohl die Spaltung in Subjekt und Objekt, als auch das Erleben von Einheit und Verbundenheit verschiedene Manifestationen ein und desselben Geistes sind.

Nun sind wir es ja gewohnt, dualistisch zu denken. Wir nehmen an, dass da draussen die Objekte sind und wir die Subjekte. Wir machen eine Trennung und fühlen uns dementsprechend getrennt. Die Verblendung besteht darin, dass wir die Dinge nicht im Zusammenhang sehen. Daraus entsteht Leiden.
Wir denken, wir sind nicht verbunden mit den Objekten, wir sind separate Wesen. Es gibt jedoch keine isolierten Objekte, es gibt nur ein Zusammenspiel von einem wahrnehmenden und einem wahrgenommenen Aspekt, die verbunden sind und die sich beidseitig und gleichzeitig erleben. Die Spaltung von Subjekt und Objekt ist eine grundlegende Verblendung und Unwissenheit. Dies ist die Essenz der Erkenntnis der Cittamatraschule.

Mit einer weisen Betrachtung erkennen wir, dass wir alle in unserer eigenen Vorstellungswelt leben. Durch sie kreieren wir unsere Wirklichkeit, und wir halten sie für gültig und wahrhaftig. Jeder von uns lebt nach seinem Drehbuch wie in einem Film.
Diese Vorstellungswelt ist Geist. Unser Geist ist bei jeder Art von Wahrnehmung beteiligt.
Das Auftreten eines innerlich erfassenden und äusserlich erfassten Aspektes lässt uns glauben, dass Geist und Materie von unterschiedlicher Substanz sind. Die Art und Weise, wie wir Materie wahrnehmen, ist jedoch ein Konzept. Wir konstruieren sie aufgrund einer Vorstellung unserer Sinne und begreifen sie mit Wörtern. Auch die Materie ist vom Geist geschaffen und absolut gesehen ohne Substanz. Unser konventioneller Geist kann Materie nicht durchdringen. Sie ist unserem Geist nicht zugänglich. Der Geist erlebt nur geistige Ereignisse. Er macht sich deshalb die Vorstellung von etwas Stabilem, da man Festigkeit nicht erleben kann. Er deutet sie inhaltlich als so etwas wie eine stoffliche Welt und stellt sich diese laufend vor. Der Glaube an Materie ist der Glaube an getrennte Objekte! Wie schwer fällt es mir, die Sicht dieses Glaubens zu verändern!

Der Geist ist leer von einer Unterscheidung zwischen sich selbst und etwas anderem als sich selbst. (S. 36/37)

Wir haben festgestellt, dass wir die Materie aufgrund einer Vorstellung unserer Sinne kreieren und sie mit Wörtern begreifen.
Das ist durchaus praktisch fürs Zurechtfinden in unserem Leben. Spontan ist mir ein Bild aus der Kindheit eingefallen: Die Einmachgläser auf dem Gestell in unserem Keller. Ein etwas veraltetes Bild. Gibt es überhaupt noch Eingemachtes? Die Gläser stehen also da, wohlgeordnet und ihrem Inhalt nach mit beschriebenen Etiketten versehen. So kann man schnell nach dem Richtigen, Gewünschten greifen. Man will doch die Birnen haben und nicht die Peperoni. Eigentlich könnte man den Inhalt durch das Glas erahnen. Man könnte sogar der wundersamen Birnengeschichte bis zu ihrem Weg in den Keller nachgehen. In meinem Geist gibt es jedoch keinen Raum für die Betrachtung ihres bedingten Entstehens. Zeit dafür habe ich sowieso keine. Die Birnen erscheinen meinem Geist ausschliesslich als Objekte für ein leckeres Dessert.
Das Benennen der Dinge ist rational und bringt Effizienz. Das Benennen durch Wörter ist Mittel zum Zweck für unser Funktionen im Alltag. Mit dem Benennen glauben wir auch, unser Leben durch Kontrolle im Griff zu haben. Die Etikettierung vermittelt einen Überblick über das Stoffliche. Die Dinge sind „etwas“ und haben scheinbar eine Eigennatur. Wir machen die Dinge „ein“, wir machen sie fest und brauchen diese Sicherheit für unser Leben. Und wir geben den Dingen durch begriffliche Beifügungen ihre einzige und wirkliche Wichtigkeit, weil wir sie auf unsere persönliche Art und Weise wahrnehmen.
Begriffliche Beifügungen existieren jedoch ausschliesslich für unsere Gedanken, darüber hinaus sind sie wesenlos.
Blicke ich zuhause zum Fenster hinaus, nehme ich den Kirchturm wahr und erfasse ihn automatisch als solchen. Die Katze von nebenan sieht bestimmt keinen Kirchturm. Ich weiss nicht, was sie sieht. Es ist mir jedoch klar, dass in der Verarbeitung meiner Wahrnehmung der Dualismus einsetzt.
Es gibt einen wirklichen Gewahrseinsmoment der Begegnung von innen und aussen. Es geht jedoch darum, uns nicht unbedingt auf die Dinge zu fixieren, die wir so gerne mit einem Etikett und begrifflichen Beifügungen in unserer Vorstellungswelt festnageln.
Nun etikettieren wir auf einer subtileren Ebene ja auch die Wesen um uns herum und uns selber sehr oft in Unwissenheit über die wahren Umstände und mit falschen Vorstellungen.
Hinderungen

Was macht es uns denn so schwer, diesen Reflex des Einordnens und Spaltens in Subjekt und Objekt anzuhalten?
Eine Antwort darauf können zum Beispiel meine schon früh erworbenen Verhaltensmuster geben, denen ein verletztes Ego, Ängste oder mangelndes Vertrauen usw., zugrunde liegen. Sie schaffen die Voraussetzung zu empfinden und zu denken, ich sei abgetrennt, isoliert, ausgeliefert. Ich lege mich fest auf eine bestimmte Position, die mir eine scheinbare Rückendeckung und Sicherheit gibt, meine ganz bestimmten Strategien einzusetzen, die jedoch meinen Spielraum für Begegnungen und Beziehungen mit Menschen einschränkt oder gar verhindert.

Der Denkreflex, dass ich verschieden und getrennt bin vom Objekt „da draussen“ vollzieht sich aus Gewohnheit ungeheuer rasch, er ist tausende Male eingeübt und wiederholt seit der Kindheit. Es passiert mir ganz automatisch und unbewusst, die Dinge und die Wesen mit Begriffen und Eigenschaften in meine Vorstellungswelt einzuordnen.

Im Alltag finden wir zudem unsere konventionellen Vorstellungen und Einstellungen oft bestätigt, weil die Menschen um uns herum dieselben haben. Wir erachten sie deshalb als richtig, gültig und wahrheitlich. Wir schwimmen mit in diesem Konsens, ohne ihn weiter infrage zu stellen.

Veränderungen

Wie können wir eine veränderte Sicht von uns selbst und von der Welt bewirken?
Der Entschluss, gegen den Strom zu schwimmen, bedarf einer bewussten Anstrengung, den Geist selbstbestimmt auf Veränderung auszurichten. Was heisst das nun zum Beispiel in Bezug auf meine persönlichen Verhaltensmuster?
Ich kann lernen, meinen geistigen Konstrukten auf die Spur zu kommen. Das können meine Wünsche, meine Konzepte, meine Vorstellungen sein, wie ich sein sollte, wie die anderen sein sollten oder die Identifikation mit dem, was ich zu sein scheine. Die dauernde Beschäftigung mit Identifikationen, die Berg - und Talfahrten von glücklich und unglücklich verursachen eine innere Unruhe, ein Getriebensein, eine Bewegung im Kreis, weil ich immer irgend etwas erwarte. Sie bildet einen engen Zaun um mich herum. Die Gedanken jagen sich gegenseitig zwischen Hoffnung und Furcht. Es geht darum, solche Spiele zu durchschauen und innezuhalten. Die entscheidende Frage ist: Wie reagiere ich auf einen bestimmten Sinnesinput? Was ist jetzt gerade wieder geschehen in meinem Denk - und Fühlmechanismus? Weshalb bleibt die Nadel dauernd in derselben Plattenrille hängen? Wo befindet sich der Kratzer, der den Fluss und damit eine Weiterentwicklung verhindert? Ich gehe in mich, um meine Muster zu erkennen und bewusst daran zu arbeiten, etwas zu verändern. Ich kann die Gebundenheit an eine solche sehr prägende Ich-Vorstellung aufgeben und meinen Geist ausrichten, weg vom Drehen in engen Ich-Belangen, hin zu einer offenen Bewusstheit, auf ein Gewahrsein in Situationen. Ich kann mich darin üben, mit dem Fluss jeder Situation eins zu sein und Momente in einer anderen Qualität erleben.

Es gibt also ein Bewusstsein, das nicht abhängig ist von meiner Sinnestätigkeit, ein Bewusstsein, in dem ich mich nicht als abgetrenntes, separates Wesen empfinde, das abhängig ist von Objekten. Ich kann die Ausrichtung meines Geistes dahingehend verändern.

In der Meditation erlebe ich in gesegneten Momenten den Geist als leer von Dualität und das Ruhen in mir selbst im Begriffslosen. Gelingt es mir, die Qualität dieser tief empfundenen Ruhe und das Loslassen von Konzepten mehr und mehr in meinen Alltag zu übertragen, kann ich verändert auf die Welt reagieren.

Ein weiterer wichtiger Aspekt des offenen Gewahrseins und eine logische Folge davon ist es, den Menschen mehr und mehr vorurteilslos zu begegnen. Ohne Spekulationen und Vorstellungen darüber, wie und was er oder sie ist oder sein könnte, einfach Wesensgleichheit erkennen, mich berühren lassen, von dem, was ist – das immer und immer wieder zu üben, das ist nicht ganz leicht, da mein Geist ja allzu gern seine Vorstellungen spielen lässt und etikettieren möchte...

Ich kann die Ausrichtung meines Geistes also immer wieder auf eine Freiheit hin lenken, die ich selber bestimme, darauf, nicht mehr in einem gewohnten Schema gefangen zu sein. Ich kann die Fähigkeit entwickeln, das Bewusstsein aktiv auf diese selbstbestimmte Freiheit auszurichten. Weil die beiden Geistesaspekte, der wahrnehmende und der wahrgenommene, miteinander verbunden und wechselseitig voneinander abhängig sind, folgt daraus für mich, dass ich gar nicht anders kann, als meinen Geist auf Bedingungen zu fokussieren, die heilsame Begegnungen und Inspiration ermöglichen und darauf, selber Raum zu schaffen für Heilsames.
All diese Bemühungen, die manchmal scheitern und manchmal erfolgreich sind,
finden mitten im verführerischen, faszinierenden Leben statt!

BETRACHTENDE MEDITATION

Vorbereitung

  • In welchen Situationen erlebe ich meinen Geist losgelöst, offen und weit? Wie fühlt sich das an?
  • In welchen Situationen erlebe ich meinen Geist fixiert, eingeengt, gefangen?

Wie fühlt sich das an?

Vor längerer Zeit hat mich ein Erlebnis eine Qualität des Bewusstseins wahrnehmen lassen, die mich tief berührt hat. Durch glückliche Umstände und völlig unerwartet erhielt ich die Gelegenheit, einem Konzert mit einem jungen russischen, aussergewöhnlich talentierten Pianisten in der Tonhalle in Zürich beizuwohnen. Die Bedingungen waren derart gut, dass es mir mit ganz wenig Ablenkung gelang, den Klängen der Musik in aller Tiefe zu lauschen. Dabei geschah es, dass mein abgegrenztes Ich, das immer wieder glaubt, sich mehr oder weniger verkrampft in der Welt behaupten zu müssen, dahinschmolz wie Schnee in der Sonne. Die Körpergrenzen lösten sich auf. Der Ozean der Klänge verband sich mit mir. Es fühlte sich rund an, ausdehnend, unbegrenzt, pulsierend, erfüllend. In den Momenten waren zudem alle Zeiten vorhanden: die Gefühle des Komponisten damals, interpretiert durch den Vortragenden, riefen meine eigenen Gefühle wach, die in die Zukunft hineinflossen. Durch meinen weich gewordenen Blick verloren die Gegenstände (Pianist, Flügel, Podium, Raum, die Zuhörer) ihre scharfen Konturen und in der Einheit des Geistes ihre Eigenschaft eines Gegen-Standes. Das „Gegen“ wird zum „Zusammen“. Das Erlebnis hat mich tief beglückt und lange nachgewirkt. Ich habe die Welt fliessend, spielerisch, offen erlebt, ohne Starrheit und Festigkeit. Ich fühlte Einheit, Verbundenheit und Zeitlosigkeit.
Musik ist eine wundervolle Ebene für die Öffnung und Weitung des Geistes.

Ein anderes Beispiel, wie wir offenes Gewahrsein üben können:

Vor unseren Augen haben wir einen herrlichen, weiss glänzenden Bergriesen im Berner Oberland, umrahmt von einem tiefblauen Himmel. Der Berg ist berühmt und bekannt. Üblicherweise sehen wir ihn als Ding und wollen ihn sogleich benennen, da wir natürlich wissen, wie er heisst. Ist das nicht der Fall, fragen wir vielleicht sogar den Menschen neben uns, der uns bestimmt helfen kann, unsere Wissenslücke zu stopfen. Anstatt den Berg auf diese übliche Weise zu sehen, können wir in völligem Loslassen der sattsam bekannten Reaktionsmuster einfach Verbundenheit mit ihm spüren. Gelingt es uns nämlich, von der Idee „Berg“, vom Fixiertsein auf die Objekthaftigkeit, loszukommen, fühlt es sich weicher, fliessender an, man könnte sagen, ich fühle mich weniger kompakt, durchlässiger, organisch, berührbar oder auch weniger abgeschnitten. Wenn wir keine Subjekt-Objektaufspaltung machen, erfahren wir das Sein, die wahre Wirklichkeit, unmittelbar.
Dieses offene Gewahrsein bewusst auch in Situationen zu üben, in die sich mein Geist allzu gerne verwickeln und damit verwirren lassen möchte, macht ihn zunehmend flexibler unabhängiger und freier.

TRAUM

Wir haben von der Sicherheit gesprochen, die wir im Leben so gerne haben möchten. Welche relativen Sicherheiten gibt es denn noch ausser dem Benennen und Begreifen, an dem wir uns festhalten? Wir erfahren zum Beispiel eine gewisse Kontinuität des Lebens, es gibt voraussehbare gleichmässige Abläufe, voraussehbare Ereignisse, wir haben ein Gefühl für Ursache und Wirkung. Tatsache ist, dass wir uns gerne in Sicherheit fühlen und um uns herum eine Welt spüren, die real ist und uns Halt gibt. Wir haften an dem, was uns lieb und teuer ist, wollen es nicht verlieren und empfinden Abneigung gegen das, was wir nicht mögen. Unser Tagesbewusstsein, der Wachzustand, suggeriert uns Sicherheit, Halt und Wirklichkeit.
Ausser der Erfahrung im Wachzustand gibt es noch unsere Traumerfahrung. Die Cittamatrins ziehen für die Erklärung ihrer Sichtweise der Leerheit gerne das Traumbeispiel heran. Wir sind geneigt, die beiden Erfahrungen Traum- und Wachbewusstsein voneinander zu trennen: „Ich habe geträumt“, oder: „ich bin wach“. Es ist mir schon oft passiert, dass mich eindrückliche, lebhafte Träume in den Tag hinein begleitet haben, so dass mir nicht ganz klar war, was ist jetzt real und was ist Inhalt des Traumes. Ich schien auf eine Art weiterzuträumen und den Trauminhalt mit der Tageserfahrung zu vermischen. Sind wir uns denn wirklich immer klar darüber, ob wir wach sind oder träumen? Ist es nicht so, dass wir z.B. mit einem verwirrten Geist traumartige Zustände erleben können oder dass wir träumend einen Traum für den Wachzustand halten, weil seine Geschichte folgerichtig, nüchtern und alltäglich ist?

Aus eigener Erfahrung gibt es keine eindeutigen Merkmale, die die Wacherfahrung von der des Traumes unterscheiden. Es macht aber Angst, den Wachzustand ernsthaft anzuzweifeln, weil uns damit quasi der Boden unter den Füssen weggezogen würde.

In einem meiner längst vergangenen Träume, den ich nie vergessen konnte, weil er mir so rätselhaft vorkam, gab es eine lange bewegte Geschichte, an deren Ende sich vor meinen Augen eine Bahnschranke mit einem Klingelton schloss. Der Klingelton kam aber aus dem Wecker neben meinem Bett!!
Subjektiv gesehen, hat mein Bewusstsein im Moment des Erwachens zwei Zeiten wahrgenommen, diejenige des Traumes und die des äusseren Objektes, des Weckers, die Zeit der Welt „da draussen“.
Das äussere Objekt, der Klingelton, hat in meinem Traumbewusstsein eine subjektiv erlebte, vermeintlich lange Geschichte erzeugt. Dabei bin ich erwacht. Der innerlich erfassende Gewahrseinsmoment, die Traumgeschichte, fällt mit dem äusserlich erfassten objektiven unmittelbar zusammen.
Mit diesem Traumgeschehen wird für mich die Sichtweise der Cittamatraschule erfahrbar:
Es erscheint ein äusseres Objekt und es entsteht ein Bewusstsein, hier ein Traumbewusstsein, das dieses Objekt, den Klingelton, wahrnimmt. Nach Ansicht der Cittamatrins bilden ein äusseres Objekt und ein wahrnehmendes Bewusstsein eine Einheit, sie entstehen gleichzeitig und sind ohne substantiellen Unterschied. Sie basieren beide auf unserem Geist.
Innerhalb unseres Traumerlebens nehmen wir äussere Objekte wahr, einen Hund, ein Haus usw. Es erscheint uns alles als real. Im Erwachen erkennen wir, dass der Traum eine erfundene Geschichte des eigenen Geistes war. So ist es auch mit dem Tagesbewusstsein: Beides sind zwar verschiedene Erfahrungen, jedoch Zustände ein- und desselben Geistes. Betrachte ich den Traum als eine Metapher für das Leben, erkenne ich, dass es keine äusseren, abgespaltenen Objekte gibt, die vom Geist verschieden sind. Das Traumgeschehen und das Wacherleben sind ein Spiel des eigenen Geistes.

ALLES GESCHIEHT IN EINEM MOMENT UND IST VON GEISTIGER SUBSTANZ.

In Bezug auf meinen Traum hat sich mir gezeigt, dass es, undualistisch gesehen, nur bedingtes Entstehen gibt, den Strom von beständigem Werden und Vergehen.
Als wahrnehmender und ich-denkender Geist nehme ich an, meine Traumerscheinungen würden als etwas auftreten, das ausserhalb meines geistigen Erlebens im Wachzustand vorhanden ist. Ich separiere das geistige Erleben im Traum von dem des Wachzustandes. Die äussere Welt und der innere Geist sind jedoch beide von Natur aus Geist.
Alle Dinge und Ereignisse sind in unserer Wahrnehmung, was sie sind, real. Es gab die erlebten Dinge im Traum und es gab den Wecker, ein äusseres Objekt. Sie erschienen, undualistisch gesehen, in gegenseitiger Abhängigkeit, waren gleichzeitig und durchdrangen sich.

In der Meditation, im Verweilen des Begriffslosen, kann ich erfahren und erleben, wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenfallen und sich gegenseitig durchdringen. Ich erlebe sie als Einheit und den Augenblick als ewig.
Buddha hat gesagt: „Man haftet nicht mehr an existent und nicht existent, wenn man gesehen hat, wie die Dinge entstehen und vergehen.“
Wie sich die Cittamatrins das Traumphänomen erklären, davon etwas später.
Nach der Lehrmeinung der Cittamatrins gibt es 8 Arten von Primärbewusstsein, nämlich
Das Bewusstsein unserer 5 Sinneswahrnehmungen:
das Augen-, Ohren-. Nasen-, Zungen und Körperbewusstsein, dann
das 6. Bewusstsein des Verstandes, des Intellektes, der Gedanken, der Worte, das zugehörige Organ ist das Gehirn,
das 7. verschleierte, überlagerte Bewusstsein, das sind die Geistesgifte, vermischt mit normalen Bewusstseinswahrnehmungen,
das 8. Primärbewusstsein ist das sogenannte Speicherbewusstsein.
Es hat die Eigenschaft eines Stromes von flüchtigen Gewahrseinsmomenten ohne ein „Selbst“. Man muss sich das so vorstellen, dass durch diesen Strom alle anderen Arten des Primärbewusstseins entstehen, samt ihren Objekten.
Das Speicherbewusstsein ist also die Basis für alle Arten von Primärbewusstsein. Es wird deshalb auch All-Basis genannt. Es ist das grundlegende Bewusstsein. Unser Bewusstsein ist sowohl All-Basis als auch Speicher für karmische Eindrücke oder Anlagen.
Vajramala hat einmal ein Bild für das Speicherbewusstsein genannt, das eine gute Vorstellungshilfe ist:
Man kann sich einen „grossen Tank“ unter unserem Haus vorstellen, das Unbewusste. In diesem Tank schwimmen viele kleine Samen. Dabei geht es um die Speicherung von Erfahrungen, Eindrücken, Erinnerungen, und zwar an alle Leben. Von einem Impuls ins Bewusstsein angezogen, können diese Samen aufsteigen und ihr Potential kommt zur Entfaltung. Nach der Ansicht der Cittamatrins werden das wahrnehmende Bewusstsein und das wahrgenommene Objekt durch die karmische Anlage im Speicherbewusstsein hervorgerufen. Es gibt also für die Cittamatrins keine Trennung von karmischer Anlage und den beiden Geistesaspekten. Beides bedingt sich und existiert innerhalb unseres Bewusstseins.
Deshalb ist es so entscheidend, welche Lebensumstände wir schaffen. Sieht man diesen Zusammenhang, kann man bewusst eine Umgebung schaffen, die heilsame Samen an die Oberfläche zieht. Diese kommen dann auch zum Wirken.

Unser Geist funktioniert als All-Basis. Sie ist die Ursache für die Kontinuität des Geistes während unseres Lebens, über den Tod hinaus bis zur Wiedergeburt, während des Tiefschlafs, des Traumes, während der meditativen Versenkung. (S. 38)

Kommen wir nun nochmals auf die Träume zurück: Interessant ist, wie sich die Cittamatrins die Entstehung des Traumes erklären. Die 6 Primärbewusstseinsarten, die sich gewöhnlich nach aussen den Sinnesobjekten zuwenden, ziehen sich während des Traumes zurück und verlieren sich im Speicherbewusstsein, ähnlich Wellen, die sich im Meer auflösen. Das Speicherbewusstsein beginnt, sich in sich selbst zu bewegen, es kreiert Vorstellungen von Subjekten und Objekten, Geschichten, die der Geist für wirklich hält und gleich erlebt wie die Erfahrungen im Wachzustand. (S. 35)
Nochmals: Die Cittamatrins behaupten, dass es keinen essentiellen Unterschied gibt hinsichtlich der Substanz des Traum- und des Wacherlebens. Beide sind Aspekte des eigenen Geistes.

Ein Wort zum 7. Primärbewusstsein, zum verblendeten Aspekt des Geistes: er ist es, der die Idee einer Dualität produziert. Werden die Samen unserer gewohnheitsmässigen Gedanken und Verhaltensmuster aktiviert, produzieren sie gleichzeitig das erkennende Subjekt und das erkannte Objekt. Das 6. Primärbewusstsein, das geistige, etikettiert und benennt. Es entstehen begriffliche Beifügungen. Jedoch keines der „Etwas“, auf die sie sich beziehen, existiert von sich aus als eine natürliche Grundlage für das Hinzufügen von Konzepten. Die „Etwas“, die Entitäten sind schlicht etwas Eingebildetes. (S. 40)

Wenn wir Befreiung erlangt haben und die All-Basis von den Verwirrungen und Verschleierungen der dualistisch orientierten Primärbewusstseinsarten geläutert ist, zeigt sich das „wahrhaft Seiende“. Das Speicherbewusstsein ist dann rein von karmischen Bildungen. Wir erleben den Geist wahrnehmend und erkennend als begriffslosen Weisheitsgeist, als Leerheit, die sich erfüllt anfühlt, unbegrenzt, als lichthafte Klarheit. Der begriffslose Weisheitsgeist erkennt, dass keine separaten erfassten und erfassenden Entitäten in einem Erlebnismoment vorhanden sind.
Dann sind wir fähig, auf die Welt mit Liebe und Weisheit zu reagieren ohne dualistische Unterscheidungen und wir nehmen wahr, ohne in Schematas zu handeln.
Die geistige Natur selbst ist diese Nicht-Festigkeit und dieses Nicht-Letztgültige. Mehr und mehr in ihr zu erleben, mitzufliessen im Strom des Lebens, immer und immer wieder das Loslassen üben, an nichts krampfhaft festhalten wollen, das bewirkt kontinuierlich ein Gefühl von Befreiung.

Abschliessen möchte ich gerne mit einer kürzlich in der Zeitung gelesenen Feststellung des Filmschaffenden Woody Allen, der anscheinend sehr am Leben leidet. Er sagt: „Wir brauchen Trugbilder, weil das Leben sonst unerträglich wäre.“

Wir erkennen durch eine veränderte Sichtweise, dass das Leben selbst auf die Art und Weise, wie es unser konventioneller Geist wahrnimmt, ein Trugbild ist.

Anmerkung: Das kursiv Geschriebene mit den Angaben der Seitenzahlen entstammt dem entsprechenden Text aus „STUFENWEISE MEDITATIONSFOLGE ÜBER LEERHEIT“ von Khenpo Tsültrim Gyamtso Rinpoche. 1994 Kagyü-Dharma Verlag

Dharmavortrag zum Abschluss des zweiten Studienabschnitts „Der Buddhismus des Mahāyāna“, 30.01.2015 im Dharmazentrum Schaffhausen

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