Die Erweckung des Vertrauens

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 Vertrauenserweckung oder die Erweckung des Glaubens

Diese Prüfungsarbeit aus dem Systematischen Studium des Buddhismus von Inge Bongers handelt von einer frühen Mahāyāna Schrift, in der die Philosophie der Soheit entfaltet wird. Inge Bongers zeigt an ihrem eigenen Weg, wie wir damit praktizieren können.

Zur Einstimmung möchte ich Euch zu einer kurzen Besinnung über den Titel einladen

Ihr könntet in Euch hineinspüren,
Was verbindet ihr mit den Worten oder Begriffen Vertrauen und Glauben, wie findet ihr diese in euch wieder?

Ich wurde im Zusammenhang mit dem Titel dieses Śastras und beim Studium des Inhalts einmal mehr mit meiner Geschichte konfrontiert:
Denn der Glaube war mir in meiner christlichen und deutschen Herkunftsfamilie gründlich ausgetrieben worden, Glauben stand für mich auch sehr eng mit Gehorsam und mit Blindheit in Verbindung.
Deshalb wollte ich nur noch das glauben was ich sah oder was materialistisch begründbar war. Ich bildete mir damals ein, dass das der sicherste Weg durch die Lebenswirrnisse sein würde.
Und das Vertrauen in mich und in andere war zutiefst erschüttert.
Dennoch hatte ich immer Fragen nach Sinn und Verbundenheit. Ich hatte Wahrnehmungen von rational nicht erklärbaren Phänomenen und war intuitiv auf der Suche – nach Sinn und nach Spiritualität.

Als wir uns im ersten Semester des 2. Studienabschnitts mit diesem Śastra „Vertrauenserweckung“oder „Erweckung des Glaubens“ befasst haben, wurde ich also wieder mit meinen alten Erfahrungen und Mustern konfrontiert, obwohl ich doch meinte auf meinem spirituellen Weg schon etwas voran gekommen zu sein:
Ich verstand das Śastra einfach nicht.
Alle meine mühsam errungenen Bewältigungsstrategien des Intellekts und der Sprache wurden in Frage gestellt und das Ego hat rebelliert:
als spontane Gegenreaktion kamen Selbstentwertung, Ablehnung und Zorn auf. Um mich kognitiv dem Inhalt anzunähern, also auf meine wohlvertraute dualistische Weise, habe ich unter anderem versucht mir den Inhalt durch graphische Darstellungen zu erschliessen.
Mein Vertrauen schien in diesem Moment dahin!

Ich muss gestehen, dass ich mit dieser Abwehr noch einmal kurz und heftig konfrontiert wurde, als mir die Bearbeitung des Śastras für den Dharmavortrag zufiel.
Und das passierte, obwohl ich doch eigentlich inzwischen erkannt hatte, wie sehr ich immer noch gefangen war in meinen alten Konzepten, Selbstüberzeugungen und im Dualismus der Sprache, deren Gebrauch ich doch so eifrig geübt hatte.

Auf dem Weg des Studiums hatte es einige geschickte Mittel gebraucht, um meinen dualistischen, begrifflich fixierten, verwirrten Geist noch tiefer zu durchschauen und mich für die Weisheit des Śastras zu öffnen.
Diese geschickten Mittel wurden uns allen an Studientagen, Dharmaworkshops, Meditationsabenden und Retreats zuteil!
Und sie standen mir schliesslich doch auch wieder zur Verfügung.

Das Śastra gilt als verdichtete Quintessenz der Weisheit des Mahāyāna-Buddhismus und hat das Ziel, alle Wesen zu ihrer ursprünglichen Geistnatur, der allen Wesen innewohnenden Erleuchtung, zu führen, indem es Vertrauen und Glauben erweckt.
Auf unserem Weg durften wir im Studium der Weisheitsliteratur vieles erwägen, bedenken, prüfen und zunehmend erfahren.
Aber für die letzte Strecke des Weges brauchen wir Vertrauen, Glauben und Hingabe an den Dharma und unsere Lehrerinnen, die uns führen, sonst können die feinsten Schleier der Unwissenheit und Verblendung nicht gelüftet werden.

Ich möchte Euch an meinen Erfahrungen teilhaben lassen, die ich auf dem Weg mit dem Śastra gemacht habe.
Es gibt in dem Śastra ein Gleichnis dafür, dass es für die Entstehung eines Resultats immer Hauptursachen und begleitende oder mitwirkende Ursachen geben muss. In dem Gleichnis wird das an dem Beispiel vom Holz und seiner Brennbarkeit dargelegt.
Und dasselbe gilt eben auch für die Erweckung des Glaubens in den spirituellen Weg, den Dharma und unsere Fähigkeit, Erleuchtung zu erlangen:

Das Holz verfügt über eine latente Feuernatur, es trägt also die Hauptursache für seine Brennbarkeit in sich. Aber es kann sich nicht selbst entzünden.
Damit das Holz brennen kann, also seine latente Feuernatur manifest werden kann, braucht es begleitende Ursachen, z.B. in Form von Menschen, die wissen wie man Feuer macht, oder einen Blitzeinschlag.
Analog dazu trägt jedes Wesen als Hauptursache die Fähigkeit zur Erleuchtung als tiefen Seinsgrund in sich – nur dass dieser Seinsgrund verdeckt ist durch Verblendung und Verwirrung des Geistes und sich der Mensch nicht aus sich selbst heraus erleuchten kann.
Damit die Menschen sich auf den Weg der Befreiung machen, brauchen sie ebenfalls begleitende Ursachen, ohne die sie die Erlösung nicht erreichen würden, ohne die ihre Fähigkeit zur Erleuchtung nicht manifest werden kann. Sie können im Laufe ihres Lebens auf einen Buddha oder Bodhisattva treffen oder einem spirituellen Freund begegnen der sie führt und dies ist mir ja schon vor langer Zeit passiert:

In der Begegnung mit meiner spirituellen Freundin Sita kam ich in Kontakt mit dem Dharma und durfte an ihrem Weg teilhaben. Mein Vertrauen zu ihr und ihre vielschichtigen geschickten Mittel haben mir geholfen, zu dem Pfad zu finden und sie hat den Samen des Glaubens gesät und gestärkt.

Meine dualistische Sichtweise auf die Welt und damit auch auf den Dharma, hat sich dennoch zäh gehalten:

Nirvana hatte ich lange irgendwo ausserhalb verortet, es schien mir etwas zu sein, was mühsam errungen werden muss, und gar ein Buddha zu werden, war für mich eigentlich unerreichbar, dieses Leben jedenfalls würde dafür nicht reichen.
Ganz subtil hat sich auch die idealisierende Überzeugung gehalten, dass ein Erleuchteter mit leisem Lächeln durch diese Welt schreitet, keine Gefühle mehr hat, ausser dem grenzenlosen Mitgefühl, niemals zornig wird, also kurz über alles verfügt, was ich nicht kann bzw. mir nicht gegeben schien!

Wir alle haben uns auf dem Weg schon mit vielen Themen der Lehre des Dharma auseinandergesetzt: z.B. dem bedingten Entstehen, den Geistesgiften, dem Loslassen von Anhaftungen und dem Üben von Mitgefühl.

Für mich war das Durchschauen der dualistischen Sicht dabei von zentraler Bedeutung und hat mir geholfen, der Wahrheit näher zu kommen:
Solange ich die uns so natürlich scheinende Trennung zwischen uns als Subjekt und der Aussenwelt als Objekte aufrechterhalte, bin ich auch in den begrifflichen Festlegungen verankert. Es gibt dann nur mich hier – dort alle anderen, entweder - oder, Tag oder Nacht, Nebel oder Sonne. Und auch die Erlösung, Nirvana, steht so im Gegensatz zu unserer leidhaften Welt Samsara.
Aber die Sonne scheint hinter dem Nebel weiter und ich habe die Erfahrung machen dürfen, dass mein Leid viel mehr von meiner Geisteshaltung abhängt, als von scheinbar unbeeinflussbaren äusseren Bedingungen.

Um diese Geisteshaltung zu ergründen, die oft genug eher von Verwirrung gezeichnet ist, war die tiefe Erfahrung der Qualitäten meines Geistes in den Meditationen von grosser Bedeutung. Es gelang mir immer häufiger, die Aktivität des Geistes zu beobachten, wie sich Gedanken, Gefühle formen und Geräusche, innere Bilder aufscheinen lassen. Gleichzeitig wurde es mir auch möglich, das Wahrnehmen wahrzunehmen, ohne dass ich Worte brauche um das Erfahrene zu benennen.

Durch die Erfahrungen, dass Gedanken substanzlos sind, Gefühle vorhanden sind, aber keine Macht an sich haben, dass die Welt, die ausserhalb von mir zu sein scheint, im Grunde nur als Projektion oder Spiegelung meines Geistes vorhanden ist und nicht an sich da ist, wurde ich weiter bestärkt.
Wenn ich das Haften an meinem Ego und das Haften an Begriffen loslassen kann, entsteht in diesen Momenten der Meditation tatsächlich ein ganz anderes Bewusstsein in mir, der Kopf wird klarer, Müdigkeit verschwindet, die Nebel vor dem inneren Auge lichten sich – ich fühle mich wach, klar und verbunden.

Was ist nun dieser Geist, der als Spiegel für alle Erscheinungen dient und wo bleibt der Spiegel, wenn alle Anhaftungen und Verblendungen aufgelöst sind?
Ohne die innere Fähigkeit, das Spiel des Geistes zu beobachten, kann es keine Erlösung oder Erleuchtung geben! Gleichzeitig braucht es in uns auch ein subtiles Streben nach der Erkenntnis, dass das was ich denke, wie ich mein Leben organisiere, wie ich auf meine Umwelt reagiere, nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Dieses subtile Streben hatte ich ja schon sehr früh als intuitive Suche nach Sinn und Spiritualität wahrgenommen.

Den Weg dieser Erkenntnis sind andere Wesen schon immer gegangen und sie stellen uns Beschreibungen, Anleitungen und vielschichtige geschickte Mittel zur Verfügung, um diesen Weg ebenfalls gehen zu können.

Dafür, wie unser verwirrter Geist Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen produziert, die auf der Basis der uns innerwohnenden Erleuchtungsfähigkeit erfahrbar werden, gibt es im Śastra ein weiteres Gleichnis :
Die geistigen Aktivitäten von Unwissenheit werden darin als Wind beschrieben, der über den Ozean, die Soheit, streicht. Die Oberfläche wird aufgewühlt, der Wind hinterlässt Spuren auf dem Wasser, was die Gefühle und Wahrnehmungen, also die unterscheidenden Gedanken symbolisiert. Ich habe immer wieder erlebt, dass insbesondere meine negativen Gedanken und Gefühle auf diesem Ozean eine Sturmflut auslösen können, die mir und anderen schadet.
Diese Spuren vergehen, wenn der Wind sich legt, wir also z.B. in der Meditation ruhen.

Ohne Wasser gäbe es keine Spuren, hätte der Wind keine Stütze, um Wellen zu erzeugen.
Ohne Wind läge das Wasser eben ruhig da, würde den Himmel so spiegeln, so wie er ist.

Genauso verhält es sich mit dem Nichtwissen, dem Geist und den unterscheidenden Gedanken:
Die Unwissenheit hinterlässt auf der Basis der Essenz des Geistes Bewegungen/ Wellen-Spuren.
Würde die Essenz des Geistes (Wasser) aufhören zu existieren, würden die Menschen aufgehoben werden, denn ohne die Essenz gäbe es keine relative Welt, keine Phänomene und keine Erleuchtungsfähigkeit.
Die Verwirrung, die Gedanken und Gefühle und das Nichtwissen gehören aber zu der Welt der Phänomene, der relativen Ebene des Geistes. Sie entstehen bedingt und sind deshalb auch der Veränderung, bzw. dem Vergehen unterworfen.
Die Essenz, die Klare-Licht-Natur des Geistes wird niemals aufhören zu sein, sie ist ungeboren und unvergänglich und so kann das reine Wissen des Geistes weiter bestehen. Wenn sie nicht unvergänglich wäre, könnte es auch keine Erleuchtung geben.

Im Text gibt es ein Zitat dazu:
„Weil nur die Dummheit aufhört, hören die Merkmale der Dummheit des Geistes entsprechend auf. Dies bedeutet nicht, dass die Weisheit (d.h. die Essenz) des Geistes aufhört.“

Unsere Wahrnehmungen der relativen Wirklichkeit verbinden wir mit Gefühlen, Gedanken und der Idee einer isolierten Existenz. Wir nehmen dies alles im Spiegel unseres Geistes wahr und halten die Spiegelbilder für die wahre Wirklichkeit. Wir haften an dieser Vorstellung und greifen nach den Bildern und merken oft nicht, dass wir so im Leiden gefangen bleiben, ja das Leid auch selbst produzieren.
Dass es z.B. möglich ist auch körperlichen Schmerz so zu transformieren, dass ich dem nicht hilflos ausgeliefert bin, erlebe ich manchmal im Umgang mit meinen Kopfschmerzen, indem ich den Schmerzen in der Meditation liebevoll begegne. Und von verwirklichten Menschen wissen wir, dass sie noch viel schlimmere Schmerzen ertragen, ohne zu leiden.

In tiefer Verbindung mit der Weisheit, in den Momenten, in denen ich nicht hafte und greife, erlebe ich die Spiegelfunktion des Geistes, ohne daran zu leiden.

Die Funktion des Spiegelns bleibt also auch dann bestehen, wenn all unsere Verblendungen, Verwirrungen und Anhaftungen aufgelöst sind. Das ist die Spiegelgleiche Weisheit, eine der hervorragenden Qualitäten der Buddha-Natur.

Wie eingangs schon erwähnt, hatte ich versucht, mich mit graphischen Darstellungen den vielschichtigen Funktionen des Geistes anzunähern, wie sie im Śastra beschrieben sind.
Denn, in verdichteter Form werden die unterschiedlichen Aspekte systematisiert und beleuchtet. Zum Glück gibt es aber auch immer wieder „Sprachbilder“, die mir vertrauter sind und mir helfen über das Verstehen in die Erfahrung zu kommen.
Ein solches Sprachbild soll auch verdeutlichen, wie sich die zwei Aspekte durchdringen, die der EINE GEIST beinhaltet: der eine ist der Aspekt der absoluten Ordnung, dieser ist transzendent und bedeutet Nirvana, also das Erlöstsein aus dem Leiden.
Der andere ist der Aspekt der Ordnung der Erscheinungen und Phänomene, welcher zeitlich gedacht ist und Geburt, Tod und das Leid in Samsara enthält.
Diese beiden Aspekte sind nicht getrennt, sie durchdringen sich in ihrer Essenz. Der Begriff Essenz wird gebraucht, um genau das zu benennen, was sich in beiden Aspekten gleich bleibt.

Diese Durchdringung wird an dem Bild von Kleidern veranschaulicht:
an sich riechen Kleider oder Stoffe nach nichts, aber sie nehmen doch den Duft an, den wir z.B. am Morgen auflegen. So erscheint auf den Kleidern das Merkmal des Duftes, ohne dass sie aber zu dem Duft an sich werden.
Die Soheit wird in ihrem reinen Zustand von den Verwirrungen des Geistes durchduftet oder durchräuchert, wie es heisst, ohne jedoch davon verunreinigt zu werden, aber die Merkmale der Verunreinigungen, der Unwissenheit oder Verwirrungen erscheinen auf dem reinen Zustand.
Wenn die Unwissenheit von der Soheit durchdrungen wird, erhält sie einen reinigenden Einfluss und kann geläutert werden. Denn die Unwissenheit ist dem Werden und Vergehen unterworfen.

Für diesen EINEN GEIST gibt es verschiedene Begriffe, die ich auch schon genannt habe: Soheit, Klare-Licht-Natur des Geistes, Buddha-Natur, absolute Wirklichkeit, Essenz.

All diese Begriffe sind in unserem dualistischen System verankert, denn durch die Sprache, die begrifflichen Festlegungen tauschen wir uns aus, versuchen wir unsere Erfahrungen mitteilbar zu machen und realisieren kaum, dass sie fest in unserer relativen Wirklichkeit verankert sind, in der wir uns bewegen.

Genau so verhält es sich mit den Beschreibungen im Śastra, die bis in die kleinste Verästelung die verschiedenen Aspekte des Geistes systematisieren. Es werden Gleichnisse, Sprachbilder und Metaphern benutzt, die meine Phantasie anregen und mich berühren.
All diese Worte werden im Grunde gebraucht, um uns zu helfen, in die Lage zu kommen, unseren Geist zur Ruhe zu bringen, denn nur in Ruhe lässt er sich in seinen tiefen Dimensionen erfahren. So werden wir angeregt zu verstehen, um zu erfahren!
Es ist, als wenn wir mit dem Zuruf „Sei Still“ den geschwätzigen Geist zum Schweigen bringen.

Die Essenz entzieht sich unserem begrifflichen Denken. Im Grunde ist sie unbeschreiblich, wir können sie nicht festhalten, messen und wiegen oder dem anderen zeigen, sie ist leer von Allem, was wir als „etwas“ bezeichnen.

Leerheit oder leer sein sind Bezeichnungen, die in den buddhistischen Texten immer wieder gebraucht werden, und sie bedeuten – bar zu sein von Dinghaftigkeit, bar einer unabhängigen Existenz zu sein – und nicht etwa Nichts, wie dieses Wort im dualistischen System verstanden wird.

Für mich war es wesentlich, dies zu verstehen und zu erfahren, denn in den Texten wird der Geist nicht als Seins- Weise beschrieben, also mit Eigenschaften, die man hat oder nicht hat, erringen oder sich aneignen könnte, sondern in Verbindung mit Dynamik, Beziehung und Funktion!

Diese Funktionen des Geistes können nur erfahren werden, indem wir realisieren, dass wir wahrnehmen und was wir denken, was wir an Erfahrungen speichern und spiegeln können, indem wir spüren, was wir fühlen und welche Gedanken welche Gefühle auslösen können. Wenn wir dies beobachten ohne uns zu verstricken, können wir auch wahrnehmen, dass sich alle diese Phänomene unseres Geistes wandeln und wieder verschwinden können. Um uns zu verständigen, versuchen wir unsere Erfahrungen in Worte zu fassen, und werden damit der Erfahrung doch nicht wirklich gerecht.

In meiner Arbeit sind diese Funktionen ja auch gefragt: ich nehme wahr, wie es dem Klienten geht, ich verknüpfe diese Wahrnehmung mit meinen Erfahrungen, ich spiegele meine Wahrnehmung zurück und stelle ihm so die Möglichkeit zur Verfügung, sich selbst zu betrachten.
Dabei sind die Funktionen der Essenz, Weisheit, Liebe und Mitgefühl von immenser Bedeutung. Um sich selbst zu betrachten, braucht es ein mitfühlendes Gegenüber –sowohl im anderen als auch in sich selbst!
Ohne Weisheit, Liebe und Mitgefühl können wir unsere Verwirrungen und Verblendungen nicht auflösen.

Wie wir in dem Gleichnis der Kleidung und des Duftes schon gesehen haben, wird die Essenz beschrieben als leer von Verschleierungen, Verblendungen, Verwirrungen und gleichzeitig enthält sie alle Qualitäten, es heisst, sie enthalte alle hervorragenden, ausgezeichneten Qualitäten.
Hier gab es für mich wieder eine eher unscheinbare Falltür in die konventionelle Wirklichkeit, denn diese hervorragenden Qualitäten hätte ich natürlich gern, würde sie gern als etwas erringen worauf ich stolz sein könnte, um sie dann auch nicht wieder herzugeben.

Diese Qualitäten, Weisheit, Liebe und grenzenloses Mitgefühl, sind aber Funktionen des Geistes, die sich nur dann zeigen können oder in Aktion treten, wenn ich darauf verzichte, die Essenz dinglich festzumachen, sie mit Begriffen fixieren zu wollen. Nur wenn ich sie tief in mir erfahren habe, mein Vertrauen in diese Qualitäten gefestigt ist, können die Funktionen abgerufen werden und sie stellen sich auch nur dann ein, wenn sie angebracht und heilsam sind.
Ich habe dazu kürzlich eine eindrückliche Erfahrung mit einer jungen Klientin gemacht, die von ihrer Mutter geschickt wurde, weil Mutter verständlicherweise wollte, dass das Symptom einer beginnenden Essstörung bei der Tochter behandelt werden muss.
Das Vorgespräch mit der jungen Frau verlief merkwürdig, anders als ich es von mir gewohnt war. Es entstand kein wirklicher Kontakt und im Nachhinein fiel mir auf, dass ich bestimmte Fragen nicht gestellt hatte, es mir nicht in den Sinn gekommen war, augenfällige Verbindungen herzustellen. Im ersten Moment war ich entsetzt: Wo war meine Einfühlung, mein Mitgefühl geblieben, alles das worauf ich mir doch in meiner professionellen Haltung etwas einbilde, hatte ich im Kontakt mit der jungen Frau nicht zur Verfügung!
Wenn ich dieses Ereignis unter dem spirituellen Blickwinkel betrachte, werden die beiden sich durchdringenden Qualitäten der konventionellen und der absoluten Ebene deutlich:
Auf der konventionellen Ebene bin ich mit dem Ich-Ideal einer immer alles verstehenden und immer richtig intervenierenden Therapeutin verbunden und bewerte meine Handlungen unter moralischen Gesichtspunkten. Dies würde hier auch bedeuten, dass Mitgefühl haben heisst, mich unhinterfragt immer zur Verfügung zu stellen, stets um Zuwendung bemüht zu sein. Und wenn ich das nicht erfülle, stürze ich in den Abgrund der Selbstentwertung. Denn dann bin ich entweder eine gute oder eine schlechte Therapeutin.

Auf der absoluten Ebene hat sich in der Situation der Weisheitsgeist auf einer intuitiven Ebene ausgedrückt:
Die junge Frau war innerlich noch nicht bereit , ihr Symptom zu verstehen und darauf zu verzichten, sie hätte an ihrer Entwicklung nicht mitarbeiten können, denn das Symptom war für sie noch viel zu bedeutsam.
Wahrscheinlich hätte es einen fruchtlosen Kampf um lebenswichtige Pfunde an dem Mädchen gegeben, den wir möglicherweise beide verloren hätten. So war es auch nur folgerichtig, dass sie die Therapie noch nicht beginnen wollte, die Zeit war nicht reif dafür.

Manchmal setzt sich die Weisheit eben auch ohne uns durch, denn die Essenz ist nicht persönlich, sie wirkt durch uns durch.

Gleichzeitig wurde mir in der Reflektion auf den verschiedenen Ebenen aber auch klar, wie weit ich von einem wirklich befreiten Geist noch entfernt bin, denn in tiefer Verbindung mit der Weisheit, hätten mir wohl noch andere geschickte Mittel zur Verfügung gestanden, die junge Frau zu erreichen.
Diese Erkenntnis hat mich sehr berührt und ist ein wichtiges Motiv weiter unermüdlich an der Befreiung zu arbeiten, um die Weisheit zum Nutzen aller Wesen zu verwirklichen!
In den Momenten, in denen wir ohne Verblendung wahrnehmen und handeln, wir unser Ego nicht pflegen müssen oder an moralischen Werten festhalten müssen, sind wir im Kontakt mit der Buddha-Natur und haben genau die Funktionen der Weisheit selbstverständlich zur Verfügung, die in der Situation bedeutsam sind.
Solche Erfahrungen machen wir alle immer wieder, wir erleben Wesen, die uns durch eine Bemerkung, einen Handgriff oder auch durch Nicht-Handeln unerwartet hilfreich zur Seite stehen oder wir selbst lassen diese Hilfe anderen Wesen zuteil werden.

Wenn in den Śastras geschrieben steht, dass unzählige Buddhas und Bodhisattvas, deren Zahl grösser ist als die Sandkörner am Ganges, unermüdlich für die Erlösung aller Wesen unterwegs sind, ist das gemeint!

Darauf gilt es zu vertrauen!

Zum Abschluss meiner Betrachtungen möchte ich Euch einladen noch einmal in Euch hineinzuhorchen: Wie geht es Euch jetzt mit dem Vertrauen, dem Glauben?

Dem Vortrag liegen folgende Texte zugrunde:

1. Ashvaghosha
„Die Erweckung des Glaubens“
Englisches Original (Übersetzung aus dem Chinesischen)
Übersetzt und kommentiert von Yoshito S. Kakeda
Columbia University Press 1967
Aus dem Englischen übersetzt von Irmentraut Schlaffer
 Copyright Irmentraut Schlaffer, Bonn 1994

2. Meditations-Sutras des Mahāyāna-Buddhismus Band 1
Herausgegeben von Raoul von Muralt
3. Auflage 1988 Origo Verlag Bern/Schweiz

Dharmavortrag zum Abschluss des zweiten Studienabschnitts „Der Buddhismus des Mahāyāna“, 30.01.2015 im Dharmazentrum Schaffhausen

Autor/Autorin des Textes: 
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