Zuflucht zum Dharma – im Angesicht des Krieges

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Vortrag, gehalten von Sita Vajramati im Rahmen der internationalen Vortragsreihe «Buddha-Dharma-Sangha» des Maitreya Mandala am 14. 4. 2022
«Noch nie hat Hass den Hass besiegt - Nur Liebe besiegt den Hass»
Mit dieser Buddha-Weisheit möchte ich mich heute auseinandersetzen und über die Zuflucht zum Dharma sprechen.
Was bedeutet es jetzt und heute in unserer ganz konkreten historischen Situation Zuflucht zum Dharma zu nehmen und wie kann uns das helfen? Corona ist noch nicht vorbei, Russland führt einen Eroberungskrieg in der Ukraine, die ökologischen Folgen der Erderwärmung werden immer spürbarer.

Dharma ist ein vielschichtiger Begriff, vielleicht gelingt es mir einige Dimensionen zu beschreiben, die für uns jetzt wichtig sind. Dharma ist die Bezeichnung für die allumfassende Lehre des Buddha und zugleich für die Wahrheit und die Weisheit des Lebens.
Wenn Dharma das Allumfassende ist, dann ist es Leben und Tod, Tag und Nacht, Samsara und Nirvana, Krieg und Frieden. Das bedeutet nicht, dass alles gut wäre, sondern vielmehr, dass Dharma ein Begriff ist, der nicht in unsere dualistische Weltanschauung passt.

In seinem Erleuchtungserlebnis durchschaute der Buddha die oberflächliche Erscheinungsweise der Dinge, die wir mit unseren Begriffen in Sein und Nicht-Sein, Gut und Böse, Hier und Dort, Ich und andere, Licht und Dunkel, Freude und Leid unterteilen.
Er erkannte die inneren Gesetzmässigkeiten, nach denen sich die Dinge formen, von unseren Sinnen erfasst werden und von unserem Verstand beurteilt. Diese Gesetzmässigkeiten gelten universell. Wir, als menschliche Formen erscheinen und verschwinden auf dieselbe Art wie alles andere auch. Wir nehmen keine Sonderstellung im Kosmos ein.
Dharma ist die Bezeichnung für die buddhistische Lehre, die das beschreibt.

Ihre Kernaussage heisst: Nichts, weder wir noch die Objekte bestehen für sich alleine, sondern alles bedingt sich und formt sich gegenseitig im Guten wie im Schlechten.
Wechselseitig bedingtes abhängiges Entstehen ist die treibende Dynamik, die alles Glück und alles Leid gestaltet. Gibt es dann niemanden der verantwortlich wäre? – doch, der Mensch, weil er auf seiner Bewusstseinsstufe diese Gesetzmässigkeit erkennen und entsprechend handeln kann. Solange wir uns aber unbewusst treiben lassen, wiederholen wir nur vorgeprägte, vergangene Erlebnisformen, dann formen wir die Zukunft nach dem Muster der Vergangenheit. Das nennt der Buddha den Leidenskreislauf. Wir können aber auch aus der Unbewusstheit erwachen und der Dynamik eine heilsame Richtung geben.
Prinzipiell ist jeder Mensch erleuchtungsfähig, genauso wie der Buddha und viele andere Heil -Gewordene. Die Chance zu erwachen, ist jederzeit gegeben, ganz besonders in Ausnahmesituationen, wenn unser Leben bedroht ist. Dann sind wir Menschen am ehesten bereit uns zu hinterfragen, wie denn all dieses Leiden zustande kommt, und welchen Anteil wir selbst daran haben.

Durch die Virus-Pandemie, den Krieg in der Ukraine und die ökologische Katastrophe sind wir gegenwärtig in einer permanenten Ausnahmesituation. Unser Leben ist sowohl individuell als auch kollektiv bedroht. Wir brauchen die Zuflucht zum Dharma.
Wir sind aufgefordert, die Bedingungsfaktoren zu erkennen, die dieses Leid hervorgebracht haben und permanent verlängern, als Menschheit und als einzelne Individuen.

Einer der Hauptbedingungsfaktoren ist unsere geistige Tendenz die eigenen Illusionen für wahre Wirklichkeit zu halten. Was haben wir glauben wollen? So ein Krieg ist in Europa nicht möglich. Wir leben dauerhaft auf einer Friedensinsel. In vielen Gesprächen habe ich gehört, ich hätte nicht gedacht, dass so etwas passieren kann, obwohl man es hätte wissen können: Es gab den militärischen Einmarsch 1956 in Ungarn, 1968 in die Tschechoslowakei, die Annexion der Krim. - Wieso nehmen wir das nicht für wahr?

Es liegt an dem Bedürfnis unsere kleine ichbezogene Welt absolut zu setzen und den Rest der Welt zu vergessen. Der Buddha nannte es «avidya». Es ist der Glaube daran, dass wir Menschen als unabhängige Einzelwesen existieren und eben nicht mit allem anderen in wechselseitiger Abhängigkeit vernetzt sind. Das erlaubt uns dann zu verfahren, wie es uns beliebt ohne an die Konsequenzen für unsere Mit-Wesen und die Natur zu denken.
Aus dieser grundlegenden Verblendung durch Ich-Wahn sind alle Kriege gemacht – grosse und kleine. Die hemmungslose Ausbeutung der Natur, um ein angenehmes Leben zu führen, genauso wie die militärische Machtaneignung und die Bereicherung auf Kosten anderer.

In unserer historischen Situation als Menschheit geht es also um mehr als um den Ukraine-Krieg und den Frieden in Europa. Es geht um fundamentales Erwachen, um die Erkenntnis, dass dieser Ich -besessene Geist, an dem wir alle teilhaben, zu genau diesen Konsequenzen führt, die wir heute erleben: zur ökologischen Katastrophe, zum Artensterben und zum Krieg.

Dieses fundamentale Erwachen ist keine intellektuelle Angelegenheit, wir müssen unser Herz öffnen. Ein Herz, das mit allen Wesen mitfühlt, wäre der Grausamkeiten gar nicht fähig, die Tag für Tag begangen werden, um unseren Wohlstand zu sichern. Wenn wir zunehmend erwachen, erkennen wir, dass wir Mittäter sind ohne das zu wollen und dass es unmöglich erscheint eine Wende herbeizuführen, weil die Gewalt in den Strukturen verankert ist, von denen wir profitieren und die uns alle tragen. Diese Erkenntnis bewirkt Schmerz, Schuldgefühle und Ohnmacht – am liebsten würde man sie gleich wieder vergessen.
Wie kann also eine Wende herbeigeführt werden? - Durch die Zuflucht zum Dharma.
Die buddhistische Lehre enthält alles, was wir dazu brauchen.

Der Buddha hat vor 2500 Jahren in seinem Caccavatti Sutta die Bedingungen beschrieben, unter denen eine Herrschaftsordnung gelingen kann. In diesem Sutta Nr. 26 aus der Längeren Sammlung wird auch der kommende Buddha Maitreya angekündigt. Eine Ordnung, die mit Dharma, der Weisheit des Lebens, nicht übereinstimmt, trägt in sich den Keim des Untergangs. Sie entfernt sich immer weiter von ihrer Regenerationsfähigkeit bis schliesslich die ungebremste Herrschaft des Egos siegt und der Krieg aller gegen alle ausbricht.
Der Buddha nennt es das «Messerzeitalter». Es braucht nicht viel Phantasie um sich vorzustelle, was mit unserem menschlichen Zusammenleben passieren wird, wenn infolge der anhaltenden Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen überall die Nahrungsmittel knapp werden. Der Weltklimabericht lässt daran keinen Zweifel. Es wird zu sozialen Unruhen und Verteilungskämpfen kommen und auch zu totalitären Regimen.
Der Buddha lehrte in Gleichnissen und in Bildern. Wir müssen uns also nicht fragen, sind wir schon im Messerzeitalter oder haben wir noch Zeit. Das Sutra liefert eine Beschreibung wie die Menschheit ihren Untergang selber herbeiführt, weil sie die Gesetze des Dharma missachtet. Genau auf diesem Weg befinden wir uns. Wie kann daraus ein Wandel entstehen?

Im Sutra lesen wir: Einige Menschen haben sich dem Geschehen entzogen, indem sie sich an einen sicheren Ort zurückgezogen haben, der sie vor dem Mitmachen geschützt hat.
Diese Menschen erleben nun einen Transformationsprozess. Erschüttert über die Gewalttätigkeit und Zerstörung und gerade noch mit dem Leben davongekommen, sind sie zutiefst bewegt als sie auf Gleichgesinnte treffen, die auch noch am Leben sind.

Diese Passage des Sutra berührt mich besonders, weil sie so menschlich ist. Die Überlebenden haben den Zusammenbruch des alten Systems im Wald überstanden und als sie sich daraus wieder hervortrauen, begegnen sie anderen, die das Gleiche getan haben. Aufgehoben ist alle Feindseligkeit, vor Glück am Leben zu sein liegen sie sich in den Armen. Das verleiht ihnen die Kraft des Neubeginns.

Die neue Ordnung entsteht aus dieser – erschütternden - menschlichen Umarmung. Es sind gar keine besonderen Menschen, die der Buddha da schildert, sondern ganz gewöhnliche wie Du und Ich. Keine Heiligen und keine Erleuchteten. Miteinander sind sie in der Lage, sich der Wahrheit zu stellen, wie sie selbst durch ihr Verhalten den Zusammenbruch herbeigeführt haben und miteinander sind sie nun bereit, daraus zu lernen. Die erste und wichtigste Regel, die sich geben ist, Leben nicht zu verletzen.

Wer jetzt als Leser des Sutra meint, die Neuordnung ginge zügig voran, wird eines anderen belehrt. Sie braucht unendlich lange, weil das Bewusstsein der Überlebenden Schritt für Schritt die alten Prägungen überwinden muss um die Neue Ordnung zu bilden. Wie könnte diese neue Ordnung aussehen und wie könnten wir schon jetzt damit anfangen?
Im Sutra lesen wir von zwei Bedingungsfaktoren: tiefgreifende Einsicht und Herzensbegegnung.

Existentielle Erschütterungen haben wir ja zurzeit genug, wie fangen wir mit der Herzensbegegnung an? Besonders auf dem Höhepunkt der Viruspandemie ist mir aufgefallen, dass unsere Art über das Leiden zu sprechen das Herz nicht öffnet, sondern es verschliesst. Ich erhielt dazu eine fundamentale Belehrung durch einen Schaffner der deutschen Bahn. Während einer Zugfahrt nach Stuttgart hörte ich eine Durchsage über die aktuellen, Corona bedingten Einreisebestimmungen nach Deutschland. Sie trieb mir die Tränen in die Augen. Anders als bei den üblichen formalen Ansagen, die wie vom Band kommen, und bei denen man weghört, war ich mitten ins Herz getroffen.

Der Zugchef sagte: Liebe Fahrgäste Corona hat uns immer noch im Griff, deshalb bitte ich Sie…Er sagte es mit einer solchen Wärme und Menschlichkeit in der Stimme, dass ich mich sofort verbunden fühlte mit unserer verzweifelten Lage als Menschheit, mit allen Fahrgästen im Zug und mit ihm als Individuum, irgendwo hinter dem Lautsprecher. Gleichzeitig fühlte ich mich auch getröstet. Ja wodurch eigentlich? Dadurch dass ein Beamter der deutschen Bahn den üblichen Rahmen der Funktionalität und Formalität verlassen hatte und seine Betroffenheit mit mir teilte.

Diese kurze Szene hat mir gezeigt, dass wir jederzeit und mit allem in die Ordnung des Herzens kommen können. Es liegt an der Art, wie wir miteinander sind, bzw. sprechen. Sie kann das Herz zu machen oder sie kann es öffnen und das ist gar nicht so leicht, – aber möglich. Der Buddha nannte das «befreiende Rede».

Seitdem beobachte Ich mich selbst, wie verhalte ich mich, wie spreche ich. Wann mache ich dicht, wie gelingt Öffnung, bei mir, beim anderen. Wenn Öffnung gelingt, entsteht Vertrauen und Zuversicht. Wenn nicht, fühle ich mich hilflos, ohnmächtig, leer und abgeschnitten. Es ist dann als wäre alles nicht wahr: Der Krieg in der Ukraine nicht, Corona nicht, Klimakatastrophe nicht, Artensterben nicht – und man könnte sein gewohntes Konsum-Leben einfach so weiterführen. Es fühlt sich an wie in einem wattierten Kokon.

Das ist die Abwehr gegen das Leiden, die wir als Menschen alle brauchen, man kann sie nicht hergeben, wenn man keinen anderen Halt hat. Sie wird durch Horrornachrichten und moralische Appelle nur verstärkt. Wir kennen alle diese Art der Kommunikation. Man wird zum Empfänger schlechter Nachrichten, die das Gegenüber nicht aushält und deshalb loswerden will. Danach fühlt man sich wie geschlagen, angeklagt und überfordert.

Wie könnte es anders gehen? Der Schaffner der deutschen Bahn hat es mich gelehrt: er sprach aus seinem Herzen als mitbetroffener Mensch. Seitdem experimentiere ich.
Wie kann ich mich mit dem Herzen einbringen und andere darin unterstützen dasselbe zu tun? Wie kann ich den mich umschliessenden Kokon üblicher Denk- und Redeweisen über die Bedrohung unserer Lebensgrundlagen überwinden? Ich erlebe, dass meine Mitmenschen diese Sehnsucht auch haben. Es braucht nur wenig und schon sind wir in einer anderen Ordnung, der Ordnung der Verbundenheit, in der wir uns gemeinsam Sorgen machen, wie das Leben auf dieser Erde weitergeht.

Beispiele:
Statt Ansichten zu äussern, die Gegenansichten herausfordern, versuche ich über Erleben zu kommunizieren. Statt was meinst du zu…..? frage ich «Wie geht es dir mit ….dem Krieg? Eine Frage aus echtem Interesse am Erleben des anderen gestellt, öffnet einen noch unbekannten Raum, fördert Bewusstwerdung und ermöglicht Herzensbegegnung.
Ein anderes Beispiel: Ich hoffe, sagte meine Freundin, dass Corona bald vorbei ist, damit ich wieder reisen kann, Oh ja, antwortete ich, ich reise auch so gerne, aber vielleicht geht es in Zukunft gar nicht mehr, weil es das Klima nicht verträgt, wir verweilten schweigend in trauriger Betroffenheit. Ich versuche auf Momente zu horchen, in denen ich meine Mitbetroffenheit zum Ausdruck bringen kann, das verbindet. Die Diskussion über richtige und falsche Sichtweisen trennt.

Die neue Ordnung beginnt mitten in der alten, wie es das Sutra lehrt, dadurch dass wir Menschen unser Verhalten ändern. Es wird kein Erleuchteter kommen, der uns aus dem Elend freizaubert, Buddha Maitreya erscheint erst als Folge des Bewusstseinswandels.
Wir müssen es also selber tun – aber nicht alleine. Die tragende Kraft für diesen Wandel ist Gemeinschaft, ist Sangha. Im Mitempfinden verbunden zu sein, kann uns den liebenden Halt geben, den wir brauchen um unser Nicht-Haben und Nicht-Wissen-Wollen zu überwinden.

Ich möchte mit den Worten des Anfangs in umgekehrter Reihenfolge schliessen:

Nur Liebe überwindet den Hass
Noch nie hat Hass den Hass besiegt

Ich bedanke mich für euer Mitempfinden

Sita Vajramati, Schaffhausen im April 2022

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