Wenn alles zuviel wird - wo ist Frieden?

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von Sita Vajramati

Es gibt ein ganz bestimmtes Gefühl, das ich hasse: Alles ist zuviel, ich habe keine Zeit die Dinge in Ruhe zu erledigen und vor allem habe ich keine Zeit für mich selbst. Ich fühle mich überfordert. Dieses Gefühl kann jederzeit auftreten auch wenn objektiv betrachtet, gar nicht soviel los ist und alles machbar wäre. Es handelt sich um einen unangenehmen subjektiven Zustand, in dem ich mich befinde. Da ich ihn gut kenne, versuche ich es gar nicht so weit kommen zu lassen. Dafür habe ich ein morgendliches Ritual ausgebildet.

Ich beginne meinen Tag damit, dass ich mir vergegenwärtige, welch ein Segen es ist, dass es Buddha, Dharma und Sangha gibt und dass ich in meinem Leben Zugang zu diesen Quellen des Glücks gefunden habe. Indem ich mich daran erinnere, beruhigt sich mein morgendlich verwirrter Geist, die negativen Gedanken und Gefühle nehmen ab, Zuversicht und Vertrauen im Hinblick auf die Herausforderungen des Tages entstehen. Wie mache ich das? Ich entspanne mich in mein Herz. Worauf beruht diese Wirkung?

Wenn ich an den Anfang meines buddhistischen Übungsweges zurückdenke, waren Buddha, Dharma, Sangha drei Worte aus einer fremden Kultur, die ich formelhaft gesprochen aber auch häufig vergessen habe. Mit der Zeit und mit bewusster Bemühung sind sie zu einer wirksamen Zuflucht geworden. In dem ich sie spreche, rufe ich in mir Vertrauen und Zuversicht wach, dass ich mich vom Leiden befreien und ein sinnerfülltes, glückliches Leben führen kann. Mein normales Alltagsbewusstsein würde sonst morgens früh sofort nach der to do-Liste greifen. Kaum ist es aus dem Tiefschlaf erwacht, fängt es an zu arbeiten und kümmert sich um das Unerledigte.

Es will funktionieren, Leistung bringen, kontrollieren und beherrschen. Es ist von der Idee besessen, irgendwann könnte einmal alles erledigt sein und dann…..
Parallel dazu stellen sich negative Gefühle ein: Aversion und Aggression sowohl über das Ungenügen in der Welt als auch über das eigene Ungenügen. Ich glaube, das kennen wir alle. Es ist einfach nicht so, wie wir das gerne hätten, wir sind nicht so, wie wir gerne wären. Und auch die anderen sind nicht so, wie sie sein sollten. Wir müssen uns anstrengen, um das zu bekommen, was wir uns wünschen.

Damit ist ein Geisteszustand installiert, den wir leidhaft nennen können. Und es kommt noch schlimmer: In unserem unglücklichen Sein lehnen wir uns auch noch ab. Um unsere Negativität nicht zu spüren, versuchen wir uns abzulenken: rauchen eine Zigarette, trinken eine Tasse Kaffee, lesen die Horrornachrichten in der Tageszeitung und gehen freudlos an unser Tagwerk. Permanent halten wir unbewusst Ausschau nach Ersatz- Befriedigungen, um unsere Stimmung aufzuhellen. Beim Weg zur Arbeit schauen wir in die Schaufenster: Ah, das könnte mir gefallen, aber es ist zu teuer und ich habe ja eigentlich alles.

Wir können den ganzen Tag in dieser negativen Grundstimmung verbringen, ohne es zu merken und wir werden alles, was uns begegnet, durch diese Brille betrachten. Es wird uns darin bestätigen, dass die Gründe für unseren freudlosen Zustand in der Aussenwelt liegen, die wir nicht beeinflussen können. Und so kommt zu unserem Mangel an Lebensfreude noch das Gefühl der Hilflosigkeit und Ohnmacht hinzu. Wir sind einfach nicht so gross, so bedeutend und so mächtig, dass wir an unserem Leben etwas verändern könnten.
Dann gehen wir abends ins Kino oder setzen uns vor den Fernseher, um uns das menschliche Drama oder unsere Träume vom Glück vorführen zu lassen. Wir sehen Aussen, was wir Innen nicht erleben wollen und damit sind wir ein wenig entlastet.

Die Welt so zu erleben ist nur eine der vielen Möglichkeiten. Wir kennen sie alle, weil wir Menschen sind. Aber dazu sind wir nicht verurteilt. Es gibt andere, beglückende Erfahrungsmöglichkeiten, die unserem Menschsein ebenfalls innewohnen. Und indem ich mich daran erinnere, gebe ich meinem Geist ganz bewusst eine andere Richtung.

Es ist das Verdienst von Siddharta Gautama, dem Buddha unseres Weltzeitalters, und aller Buddhas vor ihm, diese Möglichkeiten freigelegt zu haben. Er selbst berichtet uns, wie er auf dem Tiefpunkt seiner Wahrheitssuche sich an ein Ereignis aus der Kindheit erinnert.
Er sass unter einem Rosenapfelbaum und schaute seinem Vater, der der Fürst dieser Gegend war, beim rituellen Pflügen zu. Es wurde das jährliche Frühlingsfest gefeiert. Diese Szene können wir leicht vor unserem geistigen Auge entstehen lassen. Es ist ein Bild bäuerlichen Lebens im Rhythmus der Jahreszeiten. Es vermittelt eine archetypische Atmosphäre von Geborgenheit in der menschlichen Gemeinschaft und in der Natur. Das Kind überlässt sich ihr und erlebt eine Glückseligkeit in sich selbst, die nicht von aussen, sondern aus seinem eigenen Inneren kommt. Als erwachsener Mann, geschult in allen spirituellen Disziplinen seiner Zeit, untersucht Siddhartha dieses Ereignis. Er erkennt: Es war ein ganz spontanes Geschehen. Es wurde durch keinerlei Absicht oder Bemühen hergestellt und er fragt sich, sollte das der Weg zur Befreiung sein? Habe ich etwa Angst vor diesem Glück, weil es auch vergänglich ist und ich dann wieder leiden werde? Er erkennt: Nein, das war kein weltliches, vergängliches Glück, sondern es hatte seine Wurzeln in der Tiefe meines eigenen menschlichen Wesens, in dem, was durch nichts anderes bedingt ist. Diese Entdeckung wird zum Ausgangspunkt seiner Befreiungslehre. In vierzig Jahren Lehrtätigkeit entwickelt der so Erwachte ein System der Geistesschulung, mit dem jedes Wesen, die Befreiung vom Leiden erreichen kann – auch wir.

Das gilt es zu überprüfen: Wie ist diese Art von Glück beschaffen und wie kommt es zustande? Manchmal geschieht es uns ja auch. Im Urlaub, in der Natur, in der Meditation und auch in menschlichen Begegnungen. Auf einmal scheint alles in Ordnung zu sein, so wie es ist. Es ist nicht so, dass die Probleme, die uns Sorgen gemacht haben, gelöst wären. Nein, nur wir haben davon losgelassen, sie lösen zu müssen. Auf einmal verstehen wir sie in ihrem tieferen Zusammenhang. Es ist als wäre ein Vorhang weggezogen und wir sehen, so ist es, es kann gar nicht anders sein. Und das befreit uns von dem Zwang, sie beseitigen zu müssen, und auch von allen quälenden Schuldgefühlen. Wir sind in der Akzeptanz, der Liebe und der Weisheit unseres Herzens angekommen. Gleichzeitig erleben wir Verantwortung. Da war Frieden, kein Hadern, Sinnhaftigkeit, erfülltes Sein und deshalb auch keine Gier und keine Ablehnung und kein Hin und Her. Eine Weile waren wir dem Kreislauf des Leidens entronnen. Es dauerte vielleicht nicht lange, hat uns aber eine Möglichkeit unseres eigenen Erlebens offenbart, die in der Tiefe verfügbar ist.

Leider verlieren wir diesen Zustand wieder ohne ihn recht verstanden zu haben. So bleibt er ein zufälliges, vorübergehendes Ereignis. Aber wenn wir ihn erleben, sind wir ganz sicher, so fühlt es sich stimmig an, so müsste es eigentlich sein und bleiben. Wir alle tragen diese Möglichkeit in uns, ganz unabhängig von Alter, Geschlecht, Bildungsgrad und Herkommen: es gibt eine Dimension in der Tiefe unseres Seins, in der Frieden, Weisheit, Harmonie und Glückseligkeit wohnen. Buddhisten nennen diese Dimension: Buddhanatur. Natur deshalb, weil es unser natürlicher Grund-Zustand ist. Buddha deshalb, weil er es war, der diesen Zustand durch sein Erwachen offenbart hat und ihn dann systematisch erforscht und gelehrt hat. Um ihn in unserem Leben zu verwirklichen, müssen wir verstehen, wodurch dieser natürliche Zustand verhindert wird. Das buddhistische Lehrsystem liefert uns dazu detaillierte Beschreibungen.

Siddhartha Gautama, der deswegen «Buddha», der Erwachte, genannt wird, erkannte, dass wir Menschen uns selbst ins Leiden bringen, indem wir uns vom Leben, wie es ist, abschneiden. Das Haupthindernis für ein friedvolles, sinnerfülltes und glückliches Dasein sind unsere Vorstellungen über das Leben. Wir denken uns etwas aus, machen uns Illusionen und dann nimmt das Leben einen anderen Weg als wir uns das wünschen. Wir sind enttäuscht und leiden. Unsere Anschauung der Welt basiert auf einer fundamentalen Fehlkonstruktion. Wir konstruieren die Welt so, als ob sie aus Dingen und Objekten bestünde, die man benutzen, beherrschen und besitzen kann. Das entspricht zwar unserem Sicherheitsbedürfnis aber nicht der Natur lebendiger Prozesse. Eigentlich wären wir von diesen lebendigen Prozessen gar nicht abgeschnitten, wir sind ja ein Teil von ihnen. Aber gerade, weil wir im Aussen nach etwas Dinghaftem suchen, scheint es so, als stünden wir den Objekten unserer Wünsche gegenüber. Wir erleben uns getrennt: wir sind hier und die Fülle des Lebens ist anderswo. Das macht unglücklich und lässt uns einen gravierenden Mangelzustand erleben. Wir erkennen nicht, dass es die Art und Weise unserer Wahrnehmung ist, die dieses Mangelgefühl hervorruft. Wir wollen den Mangel beheben, indem wir uns die Objekte unseres Begehrens einverleiben.

Diese Art der Befriedigung beruht jedoch auf falschen Voraussetzungen. Was wir spätestens dann merken, wenn sich das, was wir zu besitzen meinen, bewegt. Die Freundin verlässt uns, die grosse Liebe ist zu Ende, die Firma wechselt ihren Standort, der Arbeitsplatz wird wegrationalisiert. Es geschehen Dinge, die wir nie für möglich gehalten haben, unser Körper, unsere Gefühle und unsere Ansichten verändern sich, wir haben noch nicht einmal Sicherheit an uns selbst. Auf all das sind wir nicht vorbereitet. Wir sind zutiefst erschüttert und leiden. Erst jetzt merken wir, dass wir unsere Sicherheit und unser Selbstwertgefühl existentiell davon abhängig gemacht haben, dass die Welt so ist, wie wir sie uns vorgestellt haben.

Der Buddha hat die Entstehungsbedingungen dieser Art von Leidhaftigkeit in seinem Erwachens-Prozess erkannt und auch ihre Auflösung. Sie liegen in der Funktionsweise unseres Bewusstseins. Erinnern wir uns an den Anfang unserer Betrachtung: Wir haben es alle schon selbst erlebt, dass je nachdem, wie wir gestimmt sind, die Welt uns anders erscheint. Sogar mitten im Leid sind Momente tiefen Friedens möglich: das kann doch nicht an der Aussenwelt liegen. Die Aussenwelt, so wie wir sie erleben, ist vielmehr eine Projektion unserer Innenwelt und nicht unabhängig von uns da.

Alles ist sowohl wechselseitig voneinander abhängig als auch in dauernder Veränderung begriffen. Ganz gleich was wir versuchen zu fixieren, es wird uns früher oder später entgleiten und zwar, ohne dass jemand daran schuld wäre. Die Wahrheit ist vielmehr: es gibt gar nichts zum Festhalten. Solange wir das aber glauben, ist Leiden unvermeidlich. Die Zuflucht zum Buddha bedeutet nun ihm in dieser radikalen Einsicht zu folgen. Und zwar nicht nur intellektuell, sondern ganz praktisch. Er hat uns nicht nur eine schonungslose Leid-Analyse geliefert, sondern uns auch den Weg gezeigt, wie wir Leiden beenden können.

Nehmen wir wieder unsere eigene Erfahrung, um zu verstehen, was der Buddha uns lehrt. Was geschieht eigentlich in den Momenten, in denen wir uns vollkommen glücklich und in Frieden mit uns und der Welt fühlen? Es gibt sie ja, diese kostbaren befreiten Momente. Wodurch werden sie möglich? Wir haben zeitweilig losgelassen - von allem Anhaften, von allen Wünschen, Sorgen und Vorstellungen. Dadurch entspannen wir uns in den gegenwärtigen Augenblick. In eine Erfahrung der «Soheit».

Ein Gefühl der Zeitlosigkeit ist da, so als könnte dieser glückliche Augenblick ewig dauern. Weil wir nicht nach Dauer greifen, ist auch kein Anfang und kein Ende festzustellen.
Und weiter: Ohne Angst vor drohendem Verlust brauchen wir das Glück auch gar nicht fest zu halten um es zu besitzen. Wir geben uns vielmehr der beglückenden Erfahrung hin. Greifen macht eng, Hingabe macht weit: das Glücksempfinden dehnt sich aus.
Jetzt geschieht ein Wunder: das kognitive Raster raum- zeitlicher Zuordnung wird transzendiert. Es ist nicht mehr so, dass das Glück dort wäre und ich hier. Das Glücksempfinden kann zu einem alles durchdringenden Zustand werden. Wo sind dann die Grenzen?

Wenn wir so einen Zustand zeitweilig erleben, schliessen wir dann andere Menschen aus? Nein - In der Alltagssprache wird es so ausgedrückt. Man fühlt sich, als würde man am liebsten die ganze Welt umarmen. Wenn sich die räumlichen und die zeitlichen Zuordnungen auflösen, dann erleben wir All-Verbundenheit im gegenwärtigen Moment. Die fixen Grenzen, die wir in unserer Vorstellung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen uns und den anderen, gezogen haben, existieren dann nicht mehr und trotzdem können wir noch sehr genau unterscheiden, wir sehen sogar noch klarer als sonst.

All dies offenbart uns einen Geisteszustand, der unter unserem gewöhnlichen Alltagsbewusstsein zu liegen scheint: unsere Buddhanatur. Sie kann nicht hergestellt oder errungen werden, sondern ist nur durch Loslassen zu erreichen. Ungeübte erleben ihren natürlichen leidfreien Zustand spontan, ab und zu, ohne sich seiner Bedeutung bewusst zu werden, und ohne daraus Konsequenzen zu ziehen. Aber darum geht es: Loslassen muss durch Erkennen begleitet werden.

Was erkennen wir dann? Erwachen ist möglich, wir können die Bindung ans Leiden beenden. Und ich selbst wie jeder andere bin in der Lage dazu. So wie der Buddha damals sein Erleben unter dem Rosenapfelbaum ernst nahm und daraus einen systematischen Schulungsweg entwickelte, so müssen auch wir unser Erleben ernst nehmen und diesen systematischen Schulungsweg gehen. So praktizieren wir die Zuflucht zu Buddha, Dharma und Sangha.
Der Buddha ist unser eigenes Erwachens Potential. Der Dharma ist die Wahrheit des Lebens, die der Buddha gelehrt hat, und der Sangha ist unser Vertrauen in Menschen, die vor uns diesen Weg gegangen sind, woraus wir die Zuversicht schöpfen können, dass auch wir dazu in der Lage sind.

Vortragsreihe auf Youtube im internationalen Netzwerk Maitreya Mandala
Thema: Buddha, Dharma, Sangha, gehalten am 26. 11. 2021
von Sita Vajramati, Maitreya Mandala, Schweiz

Autor/Autorin: 
Sita
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