Nondualität im Alltag praktizieren. Einführung in die Sichtweise des buddhistischen Tantra von Sita Vajramati, Workshopmanuskript vom 23. April 2017

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Das Wort Tantra löst ambivalente Gefühle aus, Anziehung und Abwehr. Das blockiert die klare Wahrnehmung und verhindert die Aufnahme von Wissen. Es gibt hinduistisches und buddhistisches Tantra. Sie unterscheiden sich grundlegend. Entscheidend für den Zugang zu buddhistischem Tantra ist, die Sichtweise zu verstehen. Sichtweise bedeutet, die Art und Weise wie man auf sich selbst, die Welt und ihre Phänomene schaut. Daraus resultiert ein bestimmtes Verstehen, eine entsprechende Sinngebung und ein dieser entsprechendes Verhalten. Mit einem modernen Begriff würde man zu Sichtweise Paradigma sagen.
Tantra interpretiert das Leben in einem bestimmten Paradigma, sein Charakteristikum ist Nondualität. Damit macht Tantra das Ziel des Befreiungsweges zum Ausgangspunkt.

1. Das Leben ist heilig. - Weil alles Leben ist, ist alles heilig.

Theoretisch mögen wir mit dieser Aussage einverstanden sein, aber bei der Anwendung auf den Alltag wird es schwierig. Die Natur, Pflanzen und Tiere, das Schöne, ein Neugeborenes - das alles können wir ohne weiteres als heilig empfinden. Aber unsere Menschenwelt mit Ungerechtigkeit, Not und Gewalt, mit all dem Unheilsamen, das uns täglich begegnet? Hier sträubt sich unser gesunder Menschenverstand. Das ist gut so, es geht nicht darum ihn zu bezwingen, sondern darum tiefer zu schauen. Worauf gründet sich die tantrische Sichtweise? Inwiefern gilt es alles als heilig zu betrachten?

Alles was erscheint ist eine Ausdrucksform des Lebens, es gibt unbegrenzt viele Formen. Manche Lebensformen sind schon verschwunden wie bestimmte Pflanzen- und Tierarten. Neue Arten entstehen. Gross, klein, Mann, Frau, schön, hässlich, dick, dünn, Pflanzen, Tiere und Mineralien – alle diese Formen manifestieren Leben und unterscheiden sich in dieser Hinsicht nicht voneinander.

Die Evolution zeigt den unbegrenzt schöpferischen Ausdruck des Lebens und in diesem Sinne sind alle Formen gleich heilig. Alle Lebensformen sind in sich selbst auch vollkommen, sie haben eine eigene innere Ordnung, sie entstehen, wachsen, erblühen, pflanzen sich fort und vergehen. Sie regenerieren sich, sie sind im Kontakt mit anderen Lebensformen und sie sind schöpferisch tätig, indem sie sich neu erschaffen und andere Lebensformen nähren.

An den äusserst sensiblen ökologischen Kreisläufen, deren Schädigungen wir immer mehr zu spüren bekommen, erkennen wir, dass alles in einer harmonischen Ordnung aufeinander bezogen ist und die Weisheit des Lebens ausdrückt.
Der Begriff „vollkommen“ steht hier nicht für eine moralische Qualität, sondern für eine in sich selbst bestehende dynamische Ganzheit, die zugleich mit allem anderen in Verbindung ist.

Der Begriff Tantra drückt diese Sichtweise symbolisch aus. Tantra bedeutet wörtlich übersetzt Gewebe. In einem Gewebe – wir können uns ein Stück Stoff vorstellen – ist oben nicht besser als unten rechts nicht besser als links. Ein Gewebe kann in alle Richtungen gedreht und weiter gewebt werden. Insofern hat es auch kein Zentrum und keine Peripherie. Jede Stelle des Gewebes ist für das Gewebe gleich wichtig, auf nichts kann verzichtet werden, nichts kann herausgelöst werden, ohne dass das Ganze zerstört wird. Wo sich der horizontale ( Schuss) und der vertikale Faden ( Kette) treffen, entsteht ein Kreuzungspunkt, der mit allen anderen Kreuzungspunkten in Verbindung ist. Jeder Querfaden wird von allen Längsfäden geschnitten und umgekehrt. Das Gewebe trägt und hält nur als Ganzes. Mit dem Querfaden können schöne und unschöne Muster in das Gewebe hineingewebt werden. Sie schaden dem ganzen Gewebe nicht. Diese Muster symbolisieren die Gestaltungen des Lebens – karmisch heilsam oder unheilsam - das Leben geht trotzdem weiter. Diese unzerstörbare Kontinuität wird durch den Längsfaden symbolisiert. Das Bild des Gewebes verträgt sich nur mit Assoziationen an egalitäre demokratische Strukturen und nicht mit Vorstellungen von Hierarchie. In unserem heutigen Sprachgebrauch würden wir den Begriff der Matrix verwenden.

Historisch gesehen war Tantra tatsächlich auch eine sozial wirksame religiöse Bewegung, die weite Kreise der Bevölkerung ergriff und im achten Jahrhundert im Norden Indiens ihren Höhepunkt erreichte. In der Konsequenz der nondualen Sichtweise lag, dass alle Kasten und Schichten, Männer wie Frauen gleichwertig zu betrachten waren. Als Übungsweg des Buddhismus ist Tantra bis heute lebendig.

Zurück zur konkreten Anwendung der nondualen Sichtweise. Wenn wir sie uns probeweise zu eigen machen, wie beurteilen wir dann das augenscheinlich Unheilige? Auch in den Naturkatastrophen und in den von Menschen gemachten ökologischen Krisen drückt sich das Leben aus. Im Jahr 1870 geschah in Indonesien ein gewaltiger Vukanausbruch, die Sonne verdunkelte sich so nachhaltig, dass in der Schweiz, im Thurgau, eine Hungersnot ausbrach. Was ist daran unheilig? Es ist schwierig für das Überleben der Menschen aber im moralischen Sinne verwerflich ist das nicht.

Wenn aber Menschen in Erdbebengebieten Atomkraftwerke bauen, bedeutet das eine Missachtung der Naturgesetze, das heisst eine Missachtung des Lebens. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die Folgen eintreten. Wenn der Mensch aus Ich-Wahn meint das Leben beherrschen zu können, hat das für ihn unheilsame Wirkungen zur Folge. Auch diese Wirkungen entstehen durch die Geltung der Naturgesetze. Sie fallen nicht zufällig vom Himmel sondern sind logisch nachvollziehbar. Sie sind berechenbar und treten mit Bestimmtheit ein. Es fragt sich nur wann. Im Buddhismus nennt man diesen inneren Zusammenhang Karma: Alle Ursachen haben Wirkung. Im heiligen Gewebe des Lebens setzt sich alles fort weil alles miteinander verknüpft ist. Die Wirkung als solche ist ein Ausdruck des Lebens. Sie zeigt uns die Weisheit des Lebens und ist insofern heilig, egal ob sie uns schadet oder nicht. Wer bedingtes Entstehen sieht, sieht das Dhamma, lehrt der Buddha.

Wir sehen, dass wir die nonduale Perspektive „Alles ist heilig“ auch in bezug auf unwillkommene Wirkungen aufrechterhalten können. Das Leben selbst wird zum spirituellen Lehrer für uns als Individuen und für die Menschheit als Ganzes. Wenn wir uns in unserem kleinen privaten Rahmen lebensfeindlich verhalten, erleben auch wir früher oder später eine ökologische Katastrophe, zum Beispiel im form von Krankheit. Daraus können wir lernen.

Aus der Differenz zwischen der Weisheit des Lebens und unserer egozentrischen Verblendung, dem Ich-Wahn, entsteht das Leiden. Das Leiden ist auch heilig, weil es uns zum Erwachen bringt. Buddha hat die Verblendung nicht moralisch verurteilt, er bezeichnete sie als grundlegende Unwissenheit, die durch Geistesschulung überwindbar ist. Wir hingegen sind gefährdet uns selbst und andere zu verurteilen.

2. Wenn alles heilig ist, sind auch wir heilig.

Die nonduale Sichtweise führt zu dem logischen Schluss: Wenn alles heilig ist, sind es auch wir. Denn alles Lebendige ist ein Ausdruck des Lebens. Es fällt schwer, diese Konsequenz für sich selbst in Anspruch zu nehmen. Grenzt das nicht an Blasphemie? Wir kennen so viele Fehler, Schwächen und Unvollkommenheiten an uns. Wir entsprechen bei weitem nicht unseren Idealvorstellungen. Und wenn das so wäre, dann würde das ja auch für Gewalttäter gelten und all die Personen, die uns verletzt und Unrecht getan haben.

Wenn man von der Ganzheit, vom Gewebe der Matrix des Lebens, her schaut, dann gibt es keinen vernünftigen Grund dafür, diese Personen oder uns selbst von der Heiligkeit
auszunehmen. Jedes Individuum ist - so wie es ist - eine einzigartige Verkörperung des Lebens und hat das ganze Universum zur Grundlage, so formuliert es Lama Govinda.

Wie können wir uns dieser Sichtweise annähern? Nur wenn wir tiefer auf die Essenz des Gemeinten schauen: Worin besteht die Heiligkeit? Inwiefern gilt das auch für uns?
Wie alles Lebendigen sind auch wir Menschen eine sich selbst regulierende, anpassungsfähige dynamische Einheit. Wir sind schöpferisch und wandlungsfähig. Wir sind ausgestattet mit Wahrnehmungsvermögen, Bewusstsein, Empfindungs- und Handlungsfähigkeit. Wir sind vollkommen insofern als wir eine harmonische Ordnung verkörpern, die sich selbst am Leben erhalten kann, die wächst, sich entfaltet, sich vermehrt und ihre Form wieder auflöst, die Weisheits- und Liebesfähig ist. Diese Eigenschaften und Vermögen sind in jedem menschlichen Individuum angelegt. Alle haben dasselbe Potential. Im Buddhismus wird es als Buddhanatur bezeichnet. Von dieser grundlegenden Dimension aus gesehen, fällt es leichter, für den Menschen als solchen und für uns selber das Attribut heilig gelten zu lassen.

Durch solche Betrachtungen können wir uns der nondualen Perspektive annähern. Sich wirklich so zu erkennen und zu empfinden ist noch etwas anderes. Aber darum geht es. Darauf ist die tantrische Übungspraxis ausgerichtet. Sie stellt uns unsere natürliche Heiligkeit in Form von Gottheiten vor Augen. Der Begriff Gottheit kann leicht falsch verstanden werden. Wir denken an den griechischen Götterhimmel oder an die Götter der Naturreligionen, die den Menschen strafend und helfend als höhere Mächte gegenüberstanden. An ihre objektive Existenz glaubten die Menschen. Die Gottheiten des tantrischen Buddhismus aber haben mit Glauben nichts zu tun. Sie werden in der Meditation vergegenwärtigt. Das Ziel der Übung ist, unser Bewusstsein mit den universellen Kräften vertraut zu machen, die das Leben gestalten. Sie wirken in uns und durch uns und bringen die Welt der Erscheinungen hervor, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen. Um die meditative Vergegenwärtigung zu unterstützen werden sie auf Thangkas (Rollbildern) und als Skulpturen symbolisch dargestellt. Deshalb werden sie auch Meditationsgottheiten genannt. Diese Gottheiten und wir selber sind nicht voneinander verschieden. Sie spiegeln uns unser essentielles göttliches Potential, um dessen Befreiung und Entfaltung es auf dem spirituellen Entwicklungsweg geht. Durch Imagination und Identifikation können wir so in unser wahres Wesen hineinwachsen. Das ist der Sinn des Gottheiten Yogas.

Tut sich da nicht ein neuer Dualismus auf, zwischen unserem göttlichen Potential und unserem Verhalten in der empirischen Wirklichkeit? Diese beiden Pole werden im Tantra nicht getrennt gesehen. Der Prozess der Entfaltung wird vielmehr als ein organisches Kontinuum aufgefasst. So wie eine Blume durch verschiedene Wachstumsphasen ihr Wesen bis zur vollkommenen Blüte entfaltet so entfalten auch wir uns. Im Keim ist alles angelegt auch der Entfaltungssplan.

In der nondualen Perspektive des buddhistischen Tantra wird nichts ausgeschlossen und nichts abgelehnt. Glück und Unglück, Freuden und Leiden – alle Erfahrungen und alle Kräfte haben in bezug auf die Entfaltung des Ganzen ihren Sinn und Wert. Persönliches Unglück offenbart die Gesetzmässigkeit bedingten Entstehens und ist ein Antrieb zu spirituellem Erwachen. Insofern sind alle Wesen auf dem Weg zur Buddhaschaft und alle Wesen werden sie erreichen weil der Impuls zu wachsen, zu streben und zu reifen dem Leben innewohnt.

Solange das Haften am Leiden noch nicht überwunden ist fördert es unsere Erkenntnis und unser Erwachen. Insofern hat es seinen notwendigen Stellenwert. Im Leiden manifestieren sich befreiende Kräfte die auf die Wahrheit und die Weisheit des Lebens zurückführen. Diese Kräfte werden als zornvolle Buddhas dargestellt, sie sind aber nicht zornig auf uns. Im Buddhismus gibt es keine strafenden Götter. Es wird vielmehr so aufgefasst, dass infolge unserer Lebensmissachtung äusserst dynamische Energien auf den Plan gerufen werden. Die zornvollen Buddhas mit ihren Attributen symbolisieren unsere mitunter schmerzvollen und erschreckenden Erfahrungen auf dem Befreiungsweg.

3. Nonduales Praktizieren

Wenn wir in der nondualen Perspektive praktizieren, hören wir auf zu klagen und andere zu beschuldigen. Wir identifizieren uns und andere nicht mehr als Täter oder Opfer, sondern stellen uns der Verantwortung für das, was wir in der Vergangenheit bewirkt haben, dessen Folgen wir in der Gegenwart erleben, und lernen daraus. Wir sind uns bewusst, dass wir jetzt die Weichen für die Zukunft stellen. Das erfordert beträchtlichen Mut. In der buddhistischen Terminologie wird der Ausdruck heldenhaft gebraucht. Diejenigen, die diesen Weg konsequent bis zur vollständigen Befreiung gegangen sind werden als Sieger „Jinas“ bezeichnet.

Wir hören auf, die Realität zu kritisieren, wir erkennen vielmehr, dass alles was sich zeigt, eine konsequente Fortsetzung des Vorangegangenen ist. Insofern ist alles stimmig, wenn auch nicht erfreulich. Daraus ergibt sich eine vollkommen andere Haltung Schwierigkeiten und Problemen gegenüber. Normalerweise denken wir über Probleme nach, um sie zu beseitigen. Wie kann man aber etwas zum Verschwinden bringen das doch mit Notwendigkeit so erscheint und dessen Wurzeln in der Vergangenheit liegen die wir nicht beeinflussen können? Rückwirkend kann man nichts ungeschehen machen. Dieses Bedürfnis ist zwar verstehbar führt aber in die Sackgasse. Wir stecken fest in Bedauern und Ohnmachtsgefühlen. Nach vorne kann man sehr wohl etwas verändern, wir können andere Ursachen kreieren, dann werden auch andere Wirkungen eintreten.

Deshalb lautet die Schlüsselfrage für nonduales Praktizieren: Wozu ist das gut? Statt: Warum passiert mir das? Frage ich mich: Wozu passiert mir das? Wie kann ich das, was mir gerade geschieht, als Übungschance für meine Spirituelle Entwicklung nutzen. Ich frage mich, was macht mich leidend, was gilt es zu erkennen, woran hafte ich, was gilt es loszulassen, um in tiefere Übereinstimmung mit dem heiligen Seinsgrund des Lebens zu kommen. Das weist nach vorne. Wir werden vom Leben unterstützt wenn wir uns befreien und entfalten wollen.

Alles was im Leben geschieht, ob im Beruf, in der Familie, in der Arbeit oder beim Meditieren, im Aussen oder im Innen hat für den Prozess spirituellen Erwachens den gleichen Stellenwert. Alles wird zur Praxis, nichts wird ausgenommen. Die Trennung zwischen einem fremdbestimmten Berufs- und Familienleben und Meditationszeiten, in denen man sich davon erholt, hört auf. Praktizieren ist immer, denn alles gibt Gelegenheit, sich in klarer Wahrnehmung, Einsicht, Mitgefühl und weisem Handeln zu schulen.

4. Nondualität verkörpern

Das Ziel dieser permanenten Übung ist unsere immanente Heiligkeit - unser Erleuchtungspotential - tatsächlich in diesem menschlichen Körper ganz konkret zu verwirklichen. Das heisst, ein vollkommen befreites und erwachtes menschliches Wesen zu werden: ein Buddha - und zwar in diesem jetzigen Leben.

Dharmazentrum Schaffhausen im Maitreya Mandala
Ute Volmerg, Nondualität im Alltag Praktizieren, Einführung in die Sicht des buddhistischen Tantra. Workshop-Manuskript, Schaffhausen 2017

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